Haus – Ein Film-Fragment von Harun Farocki

Volker Pantenburg

Gespräch mit Marie-Josée Seipelt

Sanierung / Film

Volker Pantenburg: Vielleicht können Sie zu Beginn erzählen, wie es dazu kam, dass Harun diesen Film über eine Altbausanierung gemacht hat, der den Arbeitstitel „Haus“ trägt und nicht ganz fertiggestellt wurde. Auf der Dose, die wir in seinem Nachlass gefunden haben, steht „HAUS – Schnitt roh, B + T“. Das sind 25 Minuten, 16mm Umkehrmaterial in Farbe.

Marie-Josée Seipelt: Das hatte eine längere Vorgeschichte. Ich habe einen Freund und Lehrer – zuerst war er ein Lehrer, aber dann haben wir so viel zusammengearbeitet, dass daraus eine Freundschaft wurde: Tilmann Heinisch. Tilmann hatte Harun im Zusammenhang mit einem anderen Filmprojekt – Stadtbild (1981) – kennengelernt. Eines Tages wurde er zu einem Essen eingeladen, das zu Ehren der Straubs gegeben wurde und fragte mich, ob ich da nicht mit hinkommen möchte. Das habe ich gern gemacht, und bei diesem Essen lernte ich Harun kennen. Ich lebte damals schon mit Jürgen Eckhardt zusammen, wir schickten uns gerade an, unser Architekturbüro aufzubauen. Ich habe zu Jürgen gesagt: Du musst Harun unbedingt mal kennenlernen, der ist sehr nett. Die beiden mochten sich sofort. Jürgen hatte immer einen Sinn für Projekte – er hat dann später ja auch eine Zeitschrift herausgegeben (Les Choses. Berliner Hefte für Architektur) und einen Verlag betrieben. Jürgen meinte, dass wir wahrscheinlich den Auftrag bekommen, in der Spandauer Altstadt – Carl-Schurz-Straße 16 – ein Haus instandzusetzen, und er dachte, wir können doch einmal sehen, ob der Landeskonservator nicht einen Film darüber finanziert. Gesagt, getan. Harun fand auch, dass er das gut unterbringen kann im Rahmen seiner Trilogie: Ein Gemälde (Ein Bild von Sarah Schumann, 1978) – eine Fotografie (Ein Bild, 1983 über das Playmate), und dann „Haus“, so der Arbeitstitel. Mit dem Ziel haben wir das dann in Angriff genommen.

Harun war nicht immer an der Baustelle, wenn ich da war. Das Konzept hat er sich selbst überlegt – was er filmt, wie er das macht und so. Man sieht im Film ja: Das Haus ist am Ende noch nicht ganz instandgesetzt, noch nicht ganz fertig, aber Harun hat dann mit der Arbeit aufgehört. Ich nehme an, er hatte die Mittel bekommen, und ich habe ihn irgendwann gefragt: Sag mal, was ist denn aus dem Film geworden? Er sagte: Komm doch mal bei mir vorbei, dann schauen wir uns zusammen den Rohschnitt an. Dazu ist es aber nie gekommen.

VP: Das muss etwa 1981/1982 gewesen sein?

MJS: Ja, die Baumaßnahme fand zwischen 1982 und 1984 statt. Harun hat meines Erachtens 1984 nicht mehr gedreht, eventuell auch schon 1983 nicht mehr. Wir haben den Auftrag folgendermaßen bekommen: Goerd Peschken, Professor für Architektur an der HfbK Hamburg, ein Bauforscher und Architekturhistoriker, wurde von der Senatsverwaltung oder vielleicht sogar vom Landeskonservator gefragt, ob er nicht denkmalpflegerische Gutachten erstellen möchte in Spandau. Das waren schon Vorarbeiten zur IBA 1987. Es gab bei der IBA ja einen Altbau-Teil und einen Neubauteil. Schon als ich studierte, gab es große Proteste unter den Studenten gegen das Städtebauförderungsgesetz und die damit verbundenen Kahlschlagsanierungen. Man kam langsam auf die Idee, dass man die alten Häuser besser erhält als sie einfach abzureißen. Und in diesem Zuge hat man überlegt, solche Gutachten zu beauftragen. Goerd hat gesagt, er würde das gerne machen, aber nur mit Architekten zusammen und am liebsten mit uns. Ich hatte nach Abschluss meines Studiums ein Seminar zum Landschaftsgarten besucht, das er mit Tilmann an der TU Berlin durchführte. Es fand in der Kunstbibliothek, damals Jebensstraße, statt. Daraus entstand eine Freundschaft. Wir waren jung, fühlten uns geehrt und haben uns darüber gefreut. Der Bauherr in diesem Fall, Hans Bender, ein polnischer Jude, hat gesagt: Mein Architekt ist der Auffassung, man könne das Haus nicht erhalten, aber wenn Sie glauben, dass das geht, dann zeigen Sie es mir. Die Zusammenarbeit mit ihm war sehr angenehm, sehr unbürokratisch. Er hat immer gesagt: „Ich bin ja nicht so ein Spießer wie der Apotheker von nebenan“. Und so war es auch.

VP: Die eigentliche Sanierung des Hauses lief also über zwei Jahre?

MJS: Ja, das war eine Bauzeit von circa zwei Jahren. Ich freue mich sehr, dass es das Filmmaterial noch gibt, weil man gut sieht, dass dieses Haus in einer Zeit gerettet worden ist, die nicht mehr so viel zu tun hat mit der heutigen Zeit. Es fängt schon damit an, dass es keine Hucker mehr gibt, die das Baumaterial hochschaffen müssen und den Schutt wieder runter.

VP: Man sieht auch einmal eine sehr altertümlich wirkende große Säge, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne, mit der ein großer Holzbalken durchgesägt wird. Das wird sicher auch heute anders gemacht. Diese Dinge laufen noch ziemlich handwerklich ab. Jetzt, wo ich das Material kenne, hätte ich mir den Film sehr gut als Teil dieser Trilogie vorstellen können. Ein Bild, 1983, ist der Film, in dem Harun zum ersten Mal ganz ohne Interviews gearbeitet hat. Beim Film mit Sarah Schumann gibt es ein Gespräch mit ihr. In diesem Film hier gibt es eigentlich auch keine Interventionen. Es gibt Gespräche zwischen Ihnen und dem Prüfingenieur und Gespräche zwischen den Arbeitern, aber es ist seitens der Kamera nüchtern beobachtend.

MJS: Ja, das stimmt. Harun hat auch immer selbst den Zeitpunkt gewählt, wann er kommt. Er hat nicht vorher gefragt: „Ist das jetzt sinnvoll“ oder so. Man muss auch sagen: Es ist sehr schwierig, so etwas zu filmen. Das merkt man auch. Wenn jemand über die Baustelle geht, dann kommt man als Kameramann – hier Ingo Kratisch – nur schwer hinterher. Deshalb sind solche Einstellungen, bei denen ein Fenster eingesetzt wird oder die Arbeiter eine Frühstückspause machen, viel einfacher darzustellen. Das Gebäude war ziemlich freigelegt, weil die Decken herausgenommen worden waren. Das waren also schwierige Arbeitsbedingungen für Harun. Und noch dazu musste man immer dieses enge Treppenhaus hoch mit dem ganzen Filmequipment. Und dann zu merken: Ah, da passiert jetzt irgendwas, das interessant sein könnte und am richtigen Ort zu sein. Wenn ich als Bauleiterin da war, konnte ich auch keine Rücksicht auf den Film nehmen. Das ist ein deutlicher Unterschied zu den Produktionen Ein Bild von Sarah Schumann und Ein Bild, wo es viel konzentrierter, statischer und ruhiger abläuft.

VP: Es kommt mir so vor, als könne man über die einzelnen Teilbereiche dieser Sanierung jeweils einen eigenen Film machen: Über die groben Außenarbeiten, aber auch allein über das Verputzen. Insofern muss er sich immer entscheiden: Was ist denn jetzt gerade das Charakteristische? Ich nehme an, dass Harun auch gar nicht im Einzelnen in die Planungen involviert war, um zu wissen, wann was passiert.

MJS: Nein, das stimmt. Das ist aber auch angenehm an dem Film. Es ist spürbar, dass es kein Drehbuch gibt, um es mal so zu sagen. Dann würden die Personen ja sicher etwas gestellt handeln; bei mir wäre das jedenfalls so. Natürlich ist man ein bisschen befangen – man sieht die Kamera ja, das glaube ich schon. Aber wenn man sich wirklich mit Blick auf den Film etwas gezielt vorgenommen hätte, das wäre dann nochmal anders.

VP: Ich habe auch Ingo Kratisch, der die Kamera bei dem Film gemacht hat, gefragt, warum das Projekt nicht fertiggestellt wurde. Er schrieb mir: „Dieser Film von Harun über die denkmalsgerechte Sanierung eines Altbaus in Spandau wurde glaube ich aus irgendeinem Kulturfond finanziert, und Harun war mit dem Ergebnis unglücklich, und irgendwie ist er damit durchgekommen den Film nicht fertig zu machen. Ironie dieser Sanierung war, dass der Besitzer des Hauses, das von den beiden Architekten Marie-Josée Seipelt und Jürgen Eckhardt, so mühselig und aufwändig wiederhergestellt wurde, in den farblich herrlichen Räumen für hohe Miete eine Currywurstbude unterbrachte. Statt nun weiter über Sinn und Unsinn von Denkmalschutz zu reflektieren, musste er aber einsehen, dass das mit den Geldgebern nicht zu machen war, und hat aufgegeben.“

Eine Konstellation

VP: Ich habe hier das Buch „Baukunst und Film“ von Helmut Färber.

MJS: Ja, das hat Harun mir immer ans Herz gelegt, aber ich kann mich nicht mehr genau dran erinnern.

VP: Ich finde den zeitlichen Zusammenhang auffällig. Färbers Buch ist 1977 erschienen, und in dieser Zeit entstehen dann Industrie und Photographie (1979), wo es unter anderem um die Architektur der Hochöfen und Produktionsanlagen geht, dann Stadtbild (1981) mit Tilmann Heinisch und anderen, dann dieser fast fertiggestellte Film, über den wir sprechen. Das scheint mir ein gemeinsamer Komplex zu sein oder einem gemeinsamen Interesse zu entspringen. Vielleicht hängt das auch zusammen mit Begegnungen wie der mit Ihnen und Ihrem damaligen Mann. Sehr viel später dann, 2013, dreht Harun Sauerbruch Hutton Architekten. Da geht es zwar um eine Architekturbüro und nicht um ein einzelnes Bauprojekt, aber trotzdem zieht sich dieses intensive Interesse für Architektur offenbar durch.

MJS: Und über Ziegeleien hat er doch auch einen Film gemacht.

VP: Genau, Zum Vergleich (2009) über die Ziegelherstellung an verschiedenen Orten auf der Welt. Dieser Film hatte ebenfalls den Arbeitstitel „Häuser“. Deshalb ist es mit den Archivbeständen verwirrend: Es gibt 1978 einen Beitrag für das Kinderfernsehen, der den internen Titel „Häuser“ trug, es gibt „Häuser“ als Arbeitstitel von Zum Vergleich, und jetzt gibt es diesen fast fertiggestellten Film.

Tilmann Heinisch

VP: Mich interessiert auch Tilmann Heinisch als Darsteller. Wie kam es zustande, dass er in Klassenverhältnisse von Huillet und Straub eine Rolle übernahm und sein Sohn Christian die Hauptrolle spielt, Karl Rossmann?

MJS: Harun ist auf Tilmann gekommen über Janos Frecot, der die Fotografie-Abteilung der Berlinischen Galerie leitete. Ich nehme an, Harun und Janos kannten sich über die Verbindung von Film und Foto – aber das weiß ich nicht im Einzelnen. Harun hatte Frecot gefragt, ob er nicht jemanden kennt, der profund über die Stadtgeschichte von Berlin sprechen könnte. Janos hat dann Tilmann vorgeschlagen. Harun und Tilmann lernten sich kennen und freundeten sich an. Harun hat einige Szenen des Films Etwas wird sichtbar in Tilmanns Wohnung gedreht. Davon hat er vermutlich den Straubs erzählt, und als die Straubs Klassenverhältnisse vorbereitet haben, haben sie wahrscheinlich jemanden für die Hauptrolle gesucht. Sie lernten Christian, Tilmanns Sohn, kennen. Danièle hat sich um ihn gekümmert. Nach Abschluss des Films hat er seinen Schulabschluss gemacht, studiert und so weiter. Das war nicht nur eine professionelle Verbindung, sondern auch eine persönliche. Und Tilmann hat da ja auch eine Rolle gespielt.

VP: Ja, er spielt den Herrn Green im Landhaus bei New York. Bei der Retrospektive mit den Filmen Haruns war auch ein junger Filmemacher aus New York, Ted Fendt, der auch das Buch über Straub/Huillet für das Österreichische Filmmuseum herausgegeben hat. Er sah Stadtbild und dann Klassenverhältnisse und war begeistert von Tilmann Heinisch als Darsteller. Er fragte mich, ob er damals ein bekannter Schauspieler gewesen sei. Ich habe dann gesagt, dass ich eher glaube, diese Rollen seien zufällig zustande gekommen. Hat er denn noch in weiteren Filmen mitgespielt?

MJS: Nein, ich glaube nicht. Es stimmt, Tilmann hat eine große Präsenz gehabt, wenn er in den Raum kam. Das kann ich gut verstehen.

West-Berlin / Les Choses

VP: Sind solche Überschneidungen zwischen verschiedenen intellektuellen Milieus charakteristisch für diese Zeit in West-Berlin? Die Berührungen zwischen Architekten/Stadtplanern, Filmemachern, Künstlern? Oder hat das eher mit Harun zu tun, weil er sich für diese unterschiedlichen Dinge interessiert hat?

MJS: Ich glaube schon, dass es auch etwas über West-Berlin in dieser Zeit sagt. Wir haben das gespürt, als wir die Zeitschrift Les Choses. Berliner Hefte zur Architektur gemacht haben. Jürgen ist auf die Idee gekommen und ich war auch in der Redaktion. Da waren auch ganz andere Personen beteiligt, Rudi Thiessen zum Beispiel oder Johanna Wördemann. Johanna hat in der Redaktion der Zeitschrift Alternative gearbeitet, Rudi Thiessen ist Soziologe gewesen. Das war eine bestimmte Szene von Leuten, die sich auch untereinander kannten. Und später lernten wir viele Leute kennen, die in der Buchproduktion tätig waren. Peter von Maikowski hatte eine Setzerei in der Wiener Straße, Günter Bose und Erich Brinkmann haben gebunden und hatten einen eigenen Verlag – Wolfgang Schmidt und die „Edition Sirene“, der hat gedruckt. Alle haben Bücher gemacht, es waren kleine Verlage, aber sie haben gleichzeitig noch ein Handwerk gehabt und haben sich untereinander unterstützt. Und Harun war da bekannt, und auch umgekehrt: er kannte diese Leute.

VP: Und wie lange gab es Ihre Zeitschrift?

MJS: Insgesamt sind acht Ausgaben erschienen, darunter auch einige Doppelnummern. Finanziert haben wir das über unser Architekturbüro, das muss man auch dazusagen. Wir hatten ein tolles Programm, auch wenn nicht alles davon verwirklicht wurde.

VP: Ich lese hier im Impressum auch den Namen Michael Trabitzsch – er hat in dieser Zeit ja sehr eng mit Harun zusammengearbeitet und unter anderem Recherchen gemacht.

MJS: Ja, er war zunächst mit Jürgen befreundet und lernte darüber Harun kennen. Er hat sich dann aber aus dem ganzen Zusammenhang zurückgezogen und hat selbst begonnen Filme zu machen.

VP: Bei Filmen wie Bilder der Welt und Inschrift des Krieges und Leben – BRD wird er recht prominent als Rechercheur genannt. Und den Verlag „Verlag Der Beeken“, in dem die Zeitschrift erschien, gab es schon?

MJS: Nein, den hat Jürgen gegründet. Wenn Sie das Doppelsegel vorne sehen, das stammt aus einem Bild von Turner. Verlag „Der Beeken“ heißt „kleine Flüsschen“. Jürgen kommt aus Hamburg.

VP: Und die Redaktion bestand aus Jürgen Eckhardt, Marie-Josée Seipelt, Michael Trabitzsch und Johanna Wördemann.

MJS: In der ersten Nummer war das so. Später kam Helmut Geisert dazu, Johanna Wördemann und Michael Trabitzsch schieden aus. Helmut Geisert hat dann später auch Bücher gemacht, unter anderem für den Gebr. Mann Verlag, und er leitete die Architekturabteilung der Berlinischen Galerie.

VP: Harun schreibt in der ersten Ausgabe der Zeitschrift die tolle Polemik „Ich habe genug!“ Ich nehme an, dazu kam es, weil ein Schwerpunkt des Hefts dem geplanten „Filmhaus Esplanade“ gewidmet ist?

MJS: Genau. Wir haben uns immer ein Thema überlegt und dann entsprechend Autoren gefragt. Und da wir Harun kannten, hat Jürgen ihn gefragt.

VP: Das fällt ja zeitlich auch damit zusammen, dass die Filmkritik 1984 ihr Erscheinen einstellen musste. Harun ist, soweit ich weiß, schon etwas früher ausgestiegen. Ich finde interessant, an welchen Stellen das Schreiben für ihn weitergeht. Dies hier ist einer dieser etwas versteckten Orte.

MJS: Aber das war natürlich bei weitem nicht so kontinuierlich. Vielleicht wollte er uns auch einen Gefallen tun. Aber es hat ihm, glaube ich, auch Spaß gemacht, das loszuwerden. Vielleicht war er auch von der Konzeption des Hefts überzeugt. Tilmann hatte mit der Zeitschrift übrigens auch immer zu tun. Er hat auch viel für uns geschrieben.

VP: Lebt Tilmann Heinisch noch?

MJS: Nein, er ist 2006 gestorben.

Klaus Heinrich

VP: Für die West-Berliner Zusammenhänge, über die wir eben gesprochen haben, ist, soweit ich weiß, auch Klaus Heinrich eine wichtige Figur gewesen.

MJS: Ja, das stimmt. Ich selbst hatte mit Jacob Taubes und Klaus Heinrich wenig zu tun. Ich hatte aber doch eine Berührung, weil ich mit einer Frau zusammengewohnt habe, die Religionswissenschaften studierte, und sie hat manchmal etwas erzählt. Heinrich hatte ja oft architekturbezogene Themen, die er aber religionswissenschaftliche deutete. Zum Beispiel, wie die Entwürfe von Bruno Taut zu verstehen sind. Ich habe das immer ein bisschen anders gesehen. In dem Zusammenhang erinnere ich mich auch noch an eine Geschichte. Ich war Assistentin, und Harun kam mit Heike Behrend zu mir. Sie schrieb über die Behausungen in Afrika und suchte Bezeichnungen für einzelne Bauteile. Sie hat dann beispielsweise gefragt: „Ist das eine Säule?“ Und ich habe gesagt: „Nein, das ist keine Säule. Eine Säule ist ja ein Sachverhalt; es gibt eine bestimmte kulturgeschichtliche Entwicklung, damit man von einer Säule sprechen kann. In diesem Fall ist das einfach ein Ast mit einer Astgabel beispielsweise.“ Dann haben wir uns über diese Dinge unterhalten. Ich habe auch gesagt: Der erste Turm, der gebaut wird, das war vielleicht ein Phallussymbol. Aber danach bezieht man sich auf den Turm und auf den Phallus nicht mehr oder nur noch weniger. Das ist nun mal so bei Architekten. Die beziehen sich dann auf den Turm. Deshalb kann man nur schwer sagen, dass alle Türme Phallussymbole sind, das ist aus meiner Sicht nicht ganz richtig. Das zu Klaus Heinrich. Er hat immer versucht, diese Entwürfe im religionsgeschichtlichen Sinne zu deuten.

VP: Hat sich das Verhältnis zu Harun über die Jahre gehalten?

MJS: Seit er mit Kaja Silverman zusammen war, hatten wir wenig miteinander zu tun. Da habe ich Harun eigentlich aus den Augen verloren. Kennengelernt über Harun habe ich aber Andrej Ujica und seine Frau Marietta. Kaja war zu Besuch und Harun suchte eine Unterkunft für die Ujicas. Dann fragte er mich, ob sie vielleicht bei mir unterkommen könnten. Ich hab gesagt „gerne“ und habe mich mit ihnen angefreundet. Dann haben sie in der Pfarrstraße in Lichtenberg ein Haus gekauft. Es war auch im Gespräch, ob ich da mit einziehe, aber mein Sohn wollte da auf gar keinen Fall hinziehen. Ich glaube, ich hatte auch das Geld nicht zu dem Zeitpunkt. Ich hatte in der Zeit dann weiterhin Kontakt zu Andrzej und Marietta, die ich beim Ausbau der Wohnung beraten hatte, und wenn ich dann bei ihnen war, habe ich auch Harun ab und zu besucht. Zuletzt haben wir uns auf der Trauerfeier anlässlich von Mariettas Tod gesehen, die fand ein Jahr nach dem Tod statt. Und ein Jahr vorher haben wir uns gesehen, als ich zu Andrzej ging um zu kondolieren, aber er war nicht da. Ich hab dann bei Harun geklingelt und wir haben zusammen in der Küche gesessen. Das muss 2013 gewesen sein, in der Nacht hatte Harun erfahren, dass Christian Semler gestorben war.

Das Gespräch fand im März 2018 in Berlin statt.

12.07.2024 — Rosa Mercedes / 06