HaFI präsentiert #07: „Franz Wanner. Mind the Memory Gap,“ 5. Juli 2024, Arsenal Kino, Berlin

Filmstill von Berlin-Lichtenberg, (2024). (c) Franz Wanner.

In seiner aktuellen Ausstellung „Mind the Memory Gap“ im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst in Berlin untersucht Franz Wanner (* 1975 in Bad Tölz) gegenwärtige Auswirkungen der im Nationalsozialismus massenhaft praktizierten Ausbeutung durch Zwangsarbeit. Anhand von Fotografien, Texten, Filmen und Objekten entwirft der Künstler eine Erzählung über gesellschaftliche Kontinuitäten von der NS-Zeit bis heute und bezeichnet Lücken der deutschen Erinnerungskultur. Dabei kommen die Auswirkungen der NS Zwangsarbeit auf unsere Gegenwart ebenso zur Sprache wie Versuche, Geschichte zu „bereinigen“ – etwa durch die Beseitigung eines früheren NS-Zwangsarbeitslagers in Ottobrunn.

Das Arsenal präsentiert die im Rahmen der Residency des Harun Farocki Instituts entstandenen Filme gemeinsam mit älteren Filmen zum Themenkomplex. Mit Unterstützung des Farocki Forums am Seminar für Filmwissenschaft an der Universität Zürich.

Im Anschluss: Gespräch zwischen Franz Wanner und Volker Pantenburg

Franz Wanner. Mind the Memory Gap
Freitag 05. Juli 2024
20:00 Uhr

Ort: Arsenal Kino

Programm:

Mind the Memory Gap, 13:30 Min., D, 2022
From Camp to Campus, 10 Min., D, 2019
Talking Children, 10 Min., D, CH, 2024
Bereinigung I, 5:40 Min., D, CH, 2024
Bereinigung II, 4:40 Min., D, CH, 2024
Berlin-Lichtenberg, 7:20 Min., D, CH, 2024
Gespräch zwischen Volker Pantenburg und Franz Wanner (ca. 30 Min.)

 

Mind the Memory Gap
Video, 4K, Farbe, 5.1 / 2.0 Stereo-Ton, Deutsch mit engl. Untertiteln, 13:30 Min., D, 2022

Eine Strategie vieler deutscher Unternehmen, ihre Rolle im Nationalsozialismus zu behandeln, bestand jahrzehntelang in vehementem Verschweigen. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts entspricht es dem Standard, die firmeneigene NS-Vergangenheit durch bezahlte Auftragsstudien abzuhandeln. Mit treffenden Auslassungen und in abstrahierender Rhetorik lassen sich auch kapitale Verbrechen geschäftsverträglich vermitteln. Wie kann der Sektor des History Marketings zu neuen Formen finden? Im Film „Mind the Memory Gap“ hat die Kommunikationsmanagerin einer Rüstungsfirma eine Idee: Ein Themenpark der Erinnerung soll historische Kommunikation zukunftsorientiert gestalten, jenseits aller Faktenlast und mit einem Erinnerungsdesign speziell für Deutschland. Eine als Tour Guide engagierte Darstellerin (gespielt von Julia Franz Richter) führt durch bereinigte Erinnerungslandschaften und präsentiert die massenhaft praktizierte Ausbeutung durch Zwangsarbeit im erlebnisreichen Informationsflow einer bewegten Firmengeschichte: „Die Unternehmensführung stand dem politischen Klima der Zeit sehr distanziert gegenüber. Die Situation ließ aber nichts anderes zu, als dem Druck nachzugeben und sich für das Geschäftswohl aufzuopfern – sonst hätte die Firma nicht überlebt.“


From Camp to Campus
Video, 4k, Farbe, 5.1 / 2.0 Stereo-Ton, Deutsch mit englischen Untertiteln, 10 Min., D, 2019

Der Film „From Camp to Campus“ setzt die Begriffe „Camp“ und „Campus“ in Beziehung:
„Ein Lager ist ein Ort der Aufbewahrung. Die Waren lagern außerhalb des Konsums, der sie einholt, wenn es Bedarf gibt. Ein Lager ist ein Ort der Haft. Arbeitskraft wird ausgebeutet, um Waren zu produzieren.“ Unter dem Einsatz von Zwangsarbeitenden installierte das NS-Regime 1940 in Ottobrunn bei München eine „Luftfahrtforschungsanstalt“. Während die Bausubstanz eines der Zwangsarbeitslager unter Ausschluss der Öffentlichkeit privat entsorgt wird, installiert der Freistaat Bayern am gleichen Ort, der heute Ludwig Bölkow Campus heißt, das Raumfahrtprogramm „Bavaria One“.
„Ein Campus ist ein Ort der akademischen Arbeit.“ In unmittelbarer Nähe der erhaltenen Fundamente und Kellerräume des ehemaligen Lagers bilden gegenwärtig auf dem Gelände der damaligen Luftfahrtforschungsanstalt mehrere Hochschulen und Konzerne einen Campus. 2013 wurde er nach Ludwig Bölkow benannt, der als Ingenieur Kampfflugzeuge für die Wehrmacht konstruierte. Ein Forschungsinhalt am Campus, den die Bayerische Staatsregierung hervorhebt, ist die von Airbus entwickelte und militärisch eingesetzte Drohne Zephyr.1 Gleichzeitig gibt die Bayerische Staatsregierung an, dass am Ludwig Bölkow Campus weder Drohnen- noch Rüstungsprojekte existieren. Beide Angaben sind auf der Website des Landtags zu finden.


Talking Children
Video, 4k, Farbe, 5.1 / 2.0 Stereo-Ton, Norwegisch, Englisch, 10 Min., D, CH, 2024

Haakon Sørbye ist 19 Jahre alt und lebt in Oslo. Er interessiert sich für Funktechnik und elektronische Kommunikation. Am 9. April 1940 schreibt er sich als Student am Norwegian Institute of Technology ein. Am selben Tag überfällt die deutsche Wehrmacht Norwegen. Wegen des deutschen Angriffskriegs kann Haakon Sørbye sein Studium nicht aufnehmen. Er leistet Widerstand in der Funkergruppe Skylark B, die von der Gestapo aufgedeckt wird. Drei Jahre lang ist er in nationalsozialistische Lager interniert: Grini, Natzweiler-Struthof, Dachau und Ottobrunn.3 Haakon Sørbyes Sohn, Øystein Sørbye, erklärt sich bereit zu einem Filminterview in der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Natzweiler-Struthof in Frankreich4. Er spricht über die Zwangsarbeit, der sein Vater dort und in Ottobrunn ausgesetzt war und über die Möglichkeiten von den Erfahrungen im Lager zu erzählen. Im Gegensatz zu Projekten wie „New Dimensions in Testimony (NDT)“ am Institute for Creative Technologies der University South California, das NS-Verfolgte als interaktive Hologramme konserviert5, zeigt Talking Children einen anderen Ansatz. Die verheerenden Wirkungen des Nationalsozialismus enden nicht 1945, sondern dauern an bis in die Gegenwart. Das Ende der Zeitzeug*innenschaft legt es nicht nahe die betroffenen Personen als grenzenlos anwesende Informationsquellen zu inszenieren, sondern ihre Grenzen anzuerkennen und sich an ihre Nachkommen und sozialen Umfelder zu wenden.

 

Bereinigung I
Video, 4k, Farbe, 5.1 / 2.0 Stereo-Ton, Deutsch mit engl. Untertiteln, 5:40 Min., D, CH, 2024

Das Gelände eines ehemaligen NS-Zwangslagers in Ottobrunn bei München gehörte nach dem zweiten Weltkrieg zunächst der Bundesrepublik Deutschland. 1993 gab sie die Eigentumsrechte an eine Immobilienfirma ab. Die Negation einer gesellschaftlichen Bedeutung des ehemaligen Lagers blieb unter dem Wechsel des Grundstücks von staatlichem in privates Eigentum erhalten. 2018 wurde der Grund und die Bausubstanz einem Privatkäufer überlassen. Der neue Besitzer verfolgt seit 2017 das erklärte Ziel die Mauern und Kellerräume zu beseitigen und stattdessen eine Gewerbehalle zu errichten. Beide Eingriffe – der Abriss und der Neubau – werden ohne Genehmigung, aber unter der Verwaltung der zuständigen Behörden vollzogen.

 

Bereinigung II
Video, 4k, Farbe, 5.1 / 2.0 Stereo-Ton, Deutsch mit engl. Untertiteln, 4:40 Min., D, CH, 2024

Der Film beleuchtet das Vorgehen der Denkmalbehörden in Bezug auf die Beseitigung des früheren NS-Zwangsarbeitslagers in Ottobrunn bei München6. Das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege äußert schriftlich die begründete Vermutung, dass es sich bei den erhaltenen Fundamenten und Kellern um Bodendenkmäler handelt, gleichzeitig begünstigt es im Zusammenwirken mit den Profitinteressen der dort ansässigen Global Player und der lokalen Standortpolitik deren Entfernung.

 

Berlin-Lichtenberg
Video, HD, Found Footage, 16 mm digitalisiert, s/w und Farbe, ohne Ton, ukrainische, englische, russische Zwischentitel, 7:20 Min., D, CH, 2024

Den Film montierte Franz Wanner aus Found Footage Bildern von 1943. Die offenkundige Absicht des Filmenden beschauliche Augenblicke des eigenen Familienlebens im Berliner Bezirk Lichtenberg festzuhalten – die Ehefrau mit Kind beim Spaziergang, Freizeit in der Gaststätte am See – wird durch unbeabsichtigte Bildinhalte unterlaufen. Im Hintergrund des Homemovies zeigen sich Erscheinungen der Zwangsarbeit – eine Gruppe von Zwangsarbeiterinnen auf dem Weg zum Einsatzort, Barracken eines Zwangsarbeitslagers hinter dem Ausflugslokal – nicht als bewusst aufgesuchte Motive, sondern als beiläufige Dokumentation der steten Präsenz der Zwangsarbeit im NS-Alltag. Den privaten Amateuraufnahmen werden Zwischentitel hinzugefügt, die die stummen Bilder aus einer gegenwärtigen Perspektive beschreiben und um eine fiktionale Ebene erweitern.

Mit Unterstützung des Farocki Forums am Seminar für Filmwissenschaft an der Universität Zürich.

07.06.2024 — Projekte / Veranstaltung