Editorial: Terms and Conditions. Die Rechtsform der Bilder

Wer entscheidet darüber, welche Bilder wann und warum in den Sozialen Medien sichtbar werden oder unsichtbar bleiben?

Warum kann die Polizei ein Bild von mir machen, ich aber nicht unbedingt ein Bild von der Polizei?

Wie werden die Zugänge zu Archiven und Datenbanken reguliert, in denen Filme, Fotografien, Videos und andere (audio-)visuelle Dokumente lagern?

Warum werden Bilder und Tonaufnahmen manchmal vor Gericht als Beweismittel zugelassen und manchmal nicht?

Wie verlässlich geschützt sind konstitutionelle Rechtsgüter wie die „Freiheit der Kunst“ oder die „Freiheit der Wissenschaft“?

Wie erklärt sich das wachsende Interesse von Künstler*innen an Fragen der Rechtsprechung, der Gerechtigkeit, an Vertragsbeziehungen oder an Strafjustiz?

Welche Auswirkungen haben die Erfahrungen mit faschistischen Rechtsauffassungen – Rechtspraktiken und insbesondere das Wissen um die Geschichte der Justiz des NS auf zeitgenössische Kunst und Kultur?

Wenn Technologiekonzerne ihre Algorithmen mit Daten aus dem Internet trainieren, welche juristischen Möglichkeiten habe ich, ihnen gegenüber die Rechte an meinem „geistigen Eigentum“ einzuklagen?

Was für Rechtsräume und rechtlich regulierten Verkehrsformen des Audiovisuellen entstehen, wenn „Künstliche Intelligenz“ neue Bilder „halluziniert“?

Wie lässt sich die um sich greifende Verrechtlichung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse künstlerisch zur Anschauung bringen, in andere Erzählungen fassen?

Welche Wirkungen haben die Bedingungen kolonialer Rechtssystemen in der post- und neokolonialen Gegenwart?

Dies ist eine Auswahl von Fragen, die am Ausgangspunkt der Überlegungen zu dem Projekt Terms and Conditions. Die Rechtsform der Bilder stand. Es sind Fragen, das wurde sehr schnell deutlich, bei deren Beantwortung (oder Problematisierung) wir nur im Verbund, im Zusammenhang, im Netzwerk unterschiedlicher künstlerischer Praxen und Wissensformen weiterkommen würden. Das Harun Farocki Institut und seine Partner*innen setzen mit diesem Projekt auf die Kraft der Kollaboration in der Auseinandersetzung mit einer Problemlage, die den Bereich der Kultur betrifft wie wohl nie zuvor. Denn die immer größere Bedeutung, die rechtliche oder quasi- beziehungsweise para-rechtliche Rahmenbedingungen, Grenzziehungen und Regulationen, bis hin zu neuen (und bekannten) Formen staatlicher und korporativer Zensur, für die je eigene künstlerische, kuratorische oder theoretische Praxis gewonnen haben, zwingt dazu, Methoden und Strategien zu entwickeln, mit denen diesem fortschreitenden juristisch-legalen Umbau der Handlungsräume begegnet werden kann.

Ein Ziel besteht darin, Voraussetzungen für eine legal literacy, eine Alphabetisierung in Rechtsfragen im Raum der bildenden Kunst, des Films, der kritischen Medientheorie zu schaffen. Dabei verstehen sich alle Beteiligte im besten Fall als Lernende, die im Grenz- oder Zweifelsfall auch gerade am Verlernen bestimmter Ideen, Begriffe und Normen interessiert sind, welche den Umgang mit dem Recht und mit dessen Institutionen, Repräsentant*innen und Protagonist*innen organisieren.

Sehr bewusst situiert sich das Projekt auf / in einem emergenten Feld künstlerischer und kuratorischer Initiativen, Methoden und Operationen sowie wissenschaftlicher Forschung. Dieses Feld reicht von der Beschäftigung mit der Form des Gerichtsprozesses und des Tribunals bei Milo Rau oder Jonas Staal über die „investigational aesthetics“ von Forensic Architecture oder Trevor Paglen, dem von Künstler*innen, Aktivist*innen und Rechtswissenschaftler*innen betriebenen Netzwerk „Before Law“ (https://before-law.com/), zu einer Ausstellung wie „Guilty, Guilty, Guilty!“ (Kunstraum Kreuzberg, 2022/23), die künstlerischen Arbeiten zu feministischer Kriminologie versammelt hat, oder der Themenausgabe „Art Beyond Copyright“ der Zeitschrift Grey Room (2024, hg. von Amy Adler und Noam M. Elcott). Dies sind nur einige der künstlerisch-kuratorischen Referenzen, die in der Projektentwicklung und der Ausrichtung von Terms and Conditions eine Rolle gespielt haben. Wir beziehen uns auf sie, nutzen Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten, werden Aspekte weiterentwickeln und nach Kollaborationsmöglichkeiten suchen. Jedwede Abgrenzung von diesem Archiv der Kontexte und Vorarbeiten, allein der Behauptung eines Alleinstellungsanspruchs willens, interessiert uns nicht. Trotzdem gehen wir davon aus, mit unserem Ansatz, nach den Konsequenzen (und Resonanzen) einer zunehmenden Verrechtlichung (juridification) von Politik und Gesellschaft in den Sphären von Gegenwartskunst und Film zu fragen, Neuland zu betreten.

Die beiden Städte, in denen sich das Projekt maßgeblich materialisiert, sind Berlin und Leipzig, dazu kommen Veranstaltungen (Ausstellungen, Präsentationen, Screenings) in Locarno, Zürich und Potsdam. Das Harun Farocki Institut, und die Kurator*innen und Wissenschaftler*innen, die es betreiben, stehen seit Längerem im Austausch mit Künstler*innen, Filmemacher*innen, Kurator*innen und Theoretiker*innen über die juristischen und legalistischen Implikationen ihrer jeweiligen Praxis. Dieser Austausch intensivierte sich nicht zuletzt unter dem Eindruck eines sich unaufhörlich und zugleich immer rasanter verändernden Umfelds digitaler Medien, machine learning, algorithmischen Regierens usw. und damit verbundener, mächtiger politisch-gesellschaftlicher Tendenzen, bei denen Fragen des Rechts und die Notwendigkeit, auch zivilgesellschaftlich auf der Ebene von Rechtsprechung zu intervenieren, immer vehementer auf die Tagesordnung drängen. Der Verlauf dieser Gespräche und Diskussionen ließ eine fokussierte Organisation der Anliegen und Themen in einem Kulturprojekt unumgänglich erscheinen.

Gemeinsam mit dem Arsenal. Institut für Film und Videokunst e.V., der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig/Academy of Fine Arts Leipzig (HGB Leipzig), dem Berliner Förderprogramm Künstlerische Forschung, dem Studiengang Europäische Medienwissenschaft (FH Potsdam und Universität Potsdam), dem Farocki Forum am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich (UZH) und dem Locarno Film Festival wird so in den nächsten zwei Jahren eine Sequenz von Ausstellungen, Screenings, Workshops und Vorträgen geplant und durchgeführt.

Zu den wichtigsten Partner*innen und Akteur*innen innerhalb des Projekts zählen bildende Künstler*innen und Filmemacher*innen, u.a. Maayan Amir, Mareike Bernien, Adelita Husni-Bey, Thomas Locher, Jasmina Metwaly/Philip Rizk, Ines Schaber, Susan Schuppli, Cathleen Schuster/Marcel Dickhage (titre provisoire), Oliver Ressler, Oraib Toukan, Clemens von Wedemeyer und viele andere.

Mareike Bernien (künstlerische Mitarbeit), Ines Schaber (Professorin) und Clemens von Wedemeyer (Professor) lehren ebenfalls an der HGB Leipzig und werden im Sommersemester 2024 und Wintersemester 2024-25 mit ihren Studierenden an den Themen und Fragen von Terms and Conditions arbeiten. Gemeinsam mit Ilse Lafer, der Leiterin der Galerie der HGB, entwickeln die Studierenden, die Lehrenden und das HaFI im Austausch mit am Projekt beteiligten Künstler*innen und Wissenschaftler*innen in dieser Zeit eine Reihe von Zusammenkünften. In Anlehnung an den juristischen „Fall“ nennen wir diese Zusammenkünfte „case studies“. Sie bilden exemplarische Ausgangspunkte und materielle Achsen für Diskussions-, Labor- und Vermittlungsformate an der HGB, die ein Publikum außerhalb und innerhalb der Hochschule adressieren und involvieren.

Teilweise parallel zu, teilweise im Anschluss an die „case studies” an der HGB diversifizieren und vertiefen Ausstellungen, Filmprogramme, Workshops und Vorträge in Zürich, Berlin, Locarno und Potsdam die Fragestellungen des Projekts; Narrative, Modellierungen, Bildgebungen einer differenten Grammatik und Politik des Rechts werden präsentiert oder in situ entwickelt. Durchgehend begleitet wird Terms and Conditions von einer laufend aktualisierten und ergänzten Spezialausgabe von Rosa Mercedes, dem Online-Journal des Harun Farocki Instituts.

Expert*innen aus der Rechtswissenschaft, der Bild- und Kunstwissenschaft und der Philosophie wie Daniel Loick, Nico Heise, Katja Müller-Helle, Sabine Müller-Mall, Gwinyai Machona, Noam M. Elcott, Asia Bazdyrieva, Xenia Chiaramonte, Jussi Parikka, Natascia Tosel und viele andere werden das Projekt beraten und mit ihren Beiträgen begleiten und mitgestalten.

 

Theoretisch-konzeptuelle Prämissen

Wer in den Bildräumen heutiger Gesellschaften agieren will, in welcher Form auch immer, muss darauf eingestellt sein, auf Schritt und Tritt juristischen Tatbeständen zu begegnen und rechtstheoretische Argumentationen zu berücksichtigen. Anders formuliert: Die visuelle Kultur der Gegenwart ist nicht zuletzt ein Schauplatz von Akteur*innen und Prozessen des Rechts. In unterschiedlichen Formen und Wirkweisen sind Recht, Rechtsprechung, Regulation oder Strafverfolgung wirksam und verändern den Umgang mit Bildern in immer größerem und oft unbekanntem Maße.

Fragen und Themen der Urheberschaft, des Autorenrechts, des „geistigen Eigentums“, des Markenrechts, der Privatsphäre, der Menschenrechte, der Zeugenschaft, des Verfassungsrechts, der Rechtsgeschichte, der Zensur, der Kriminologie und der Forensik sind in ständiger Bewegung und Veränderung, nicht zuletzt aufgrund neuer rechtlicher Parameter von Big Data und KI-basierter Kontrollsysteme. Die Rolle von Bildern und Tönen

ist in der Rechtspraxis nicht auf die von Beweismitteln beschränkt. Bilder und Töne können ihrerseits zu Mitteln der Kritik oder Anfechtung in den Sphären von Recht und Gerichtsbarkeit werden.

Orit Kamir, die sich mit der Beziehung zwischen Recht und Film befasst, hat die Umrisse eines entstehenden interdisziplinären Studienbereichs skizziert, der dem Forschungs- und Produktionsbereich von Terms and Conditionsähnelt: „Als soziokulturelle Formationen schaffen sowohl das Recht als auch der Film Bedeutung durch das Erzählen von Geschichten, durch Performativität und rituelle Muster, indem sie sich menschliche Subjekte und soziale Gruppen, Individuen und Welten vorstellen und konstruieren. […] Beide laden Teilnehmer*innen – Zuschauer*innen, Jurist*innen, Verfahrensbeteiligte und/oder die Öffentlichkeit – ein, ihre Vision, Logik, Rhetorik und Werte zu teilen. Sowohl das Recht als auch der Film verlangen die Einhaltung von Regeln und Normen als Gegenleistung für Ordnung, Stabilität, Sicherheit und Bedeutung. Beide ermöglichen – und erfordern – die gleichzeitige und kontinuierliche Schaffung von persönlicher und kollektiver Identität, Sprache, Erinnerung, Geschichte, Mythologie, sozialen Rollen und einer gemeinsamen Zukunft. Es liegt daher auf der Hand, dass ein interdisziplinärer Ansatz für diese beiden Bereiche lebendige und faszinierende Einblicke bieten würde“ (Kamir 2005).

Zu den Gründen dieser fortwährenden Auseinandersetzung (und Sättigung) der zeitgenössischen audiovisuellen Kultur und Kunst mit Elementen des Rechtsdiskurses (und, oft genug, mit den Auswirkungen von Regulierung und Zwang) gehört die explosionsartige, globale und klassen- wie generationenübergreifende Verbreitung audiovisueller Produktionsmittel. Diese aggressive Dissemination des Audiovisuellen ist eine zentrale Strategie des Plattformkapitalismus. Als eine Folge dieser Strategie kann die Implementierung neuer, systematischer und regulatorischer Modi der Mustererkennung, Überwachung, Kontrolle usw. gelten. Sie wird treffend als platform seeing bezeichnet (Mackenzie & Munster 2019). Tiefgreifende Veränderungen der Bildpraxis sind die Konsequenz.

Es ist eine zunehmend trivial anmutende Beobachtung, dass Nutzer*innen eines Smartphones immer auch potenzielle Produzent*innen und Distributor*innen von Bildern und Tönen sind. Als freiwillige oder unfreiwillige Dokumentarist*innen können sie eine Rolle in den Kontexten der juristischen Argumentation, der Strafverfolgung, der Rechtsprechung, der (gegen-)forensischen Untersuchungen, des Kampfes gegen Polizeigewalt usw. übernehmen. Auch aus diesem Grund hat sich das Verständnis der Überschneidungen von Visuellem und Recht grundlegend verändert.

Für die kritische Analyse von Rechtstexten und -institutionen ist es jedoch von entscheidender Bedeutung zu verstehen, dass der „Rechtskomplex“ zeitgenössischer Formen des Regierens vielfältig ist: Wie Nikolas Rose und Mariana Valverde bereits vor 25 Jahren feststellten, „sind die Codes, Techniken, Diskurse und Urteile des Rechts nur ein Element in den Zusammenhängen, die unsere moderne Erfahrung von Subjektivität, Verantwortung, öffentlicher und privater Bürgerschaft ausmachen, sogar von Rechten oder von Schuld und Unschuld. Die Funktionsweise des Rechts ist immer mit außergesetzlichen Prozessen und Praktiken vermischt“ (Rose & Valverde 1998).

Das Visuelle und die Produzent*innen und Interpret*innen visueller Fakten stehen im Dienst der Strafverfolgung, können aber auch dazu dienen, Rechtssysteme infrage zu stellen und in Konflikte zwischen Recht und Gerechtigkeit zu intervenieren. Darüber hinaus ist die neue Allgegenwart von Nutzer*innen- (und zunehmend auch KI-)generiertem audiovisuellem Material wie auch von Open-Source-Ermittlungen (OSINT) und anderen Formen der (Gegen-)Aufklärung zu bedenken. Sie stehen im Zusammenhang mit der gegenwärtigen und noch andauernden Transformation des „Bildkomplexes“, d. h. „der Zirkulationskanäle, durch die sich kulturelle Formen bewegen […], und der diskursiven Plattformen, die sie in spezifischen Wahrheitsmodi darstellen und kodieren“ (McLagan & Mc Kee 2012). So hat sich nicht nur unser Begriff von professionellem Nachrichtenjournalismus nachhaltig gewandelt.

Diese Sättigung der visuellen Kultur mit nicht (bzw. para-)staatlicher Bildproduktion und deren sofortiger Archivierung wirkt sich unmittelbar auf die Formen von (Dokumentar-)Film und -Fotografie sowie zeitbasierter Medien und fotografischer Praktiken im Bereich der zeitgenössischen Kunst aus. Und während die Funktion des audiovisuellen Bildes als Beweismittel in (vor-)gerichtlichen Verfahren in den Diskussionen über die Verbindungen zwischen Recht und Kunst auf dem Feld der Gegenwartskunst beträchtliche Aufmerksamkeit erregt, könnte und sollte die Linie der Untersuchung nun noch weiter gezogen werden.

In diesem Sinne beabsichtigt das vorgeschlagene Projekt, die Forschung auf die politische Grammatik eben jener „Rechtsform“ auszuweiten, die die kapitalistische (und rassialisierende, patriarchalische ) Wertform der „spätmodernen proprietären Anerkennungsregime“ (Bhandar 2012; Pahshukanis 1989) unterstützt und ergänzt. Es befasst sich also mit der juristischen Basis oder der rechtlichen Matrix von Bildoperationen und legt die ihnen zugrunde liegenden Machtverhältnisse und institutionellen Arrangements

offen. Das normalerweise unbemerkte Substrat von Macht/Visualität ist dabei auch als Teil jenes black boxing begreiflich zu machen, das technologische Entwicklungen unweigerlich mit sich bringt. Denn: „je erfolgreicher Wissenschaft und Technologie sind, desto undurchsichtiger und obskurer werden sie“ (Latour 1999).

Eine ergänzende Aufgabe wird darin bestehen, audiovisuelle Praktiken zu identifizieren, die darauf hinarbeiten, die rechtsförmigen Strukturen, die die Herstellung und Verbreitung von Bildern regeln, herauszufordern – einschließlich solcher Strategien, die sich ostentativ über visuelle Beweise hinwegsetzen und Bilder unleserlich oder „halb lesbar“ (Mnookin 2014) machen, wie z.B. im Fall der „Unschärfe“ in den Fotografien von Ming Smith, einer visuellen Chronistin des Schwarzen Lebens, oder in der Praxis einer fabulierten Evidenz wie im Werk des libanesischen Künstlers Rabih Mroué.

In der Regel sind sich die Künstler*innen und ihr Publikum der rechtlichen Rahmenbedingungen und Infrastrukturen, die so gut wie jeden einzelnen audiovisuellen Akt umschreiben, nicht bewusst, es sei denn, solche Bedingungen und Infrastrukturen äußern sich z.B. als offensichtliche Fälle von Zensur oder Verstöße gegen die „künstlerische Freiheit“. Wir wären also gut beraten, diesen Zustand der Unwissenheit (und also der Unmündigkeit) zu verlassen und eine Kompetenz zu erwerben, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der juristischen Rechtssphäre im engeren Sinne angewandt und wirksam werden kann. Dies käme einer Befähigung all derer gleich, die es darauf anlegen, zu ihren eigenen Bedingungen in die Verflechtungen von Recht und Ästhetik einzugreifen.

Es muss jedoch betont werden, dass es nicht den einen rechtlichen Rahmen gibt. Vielmehr haben wir es mit einem komplexen Geflecht aus nationalen Gesetzen, europäischem Recht, US-amerikanischem Recht und den Rechtsvorschriften von Nichtregierungsorganisationen zu tun. Diese Komplexität (manche würden sagen: Verworrenheit) ist Teil des Problems, das die Wege in einen Zustand ebnet, der als postdemokratisch bezeichnet werden muss. Ein wichtiger Aspekt dieses Zustands sind die rechtlichen Unklarheiten des Datenschutzes und der Plattformökonomie allgemein. Diese wirken sich darauf aus, wie Bilder in den sozialen Medien zirkulieren, bis hin zu z.B. Videokonferenzen als der neuen Normalität sozialer Interaktion und (künstlerischer) Präsentationen.

Die anzustrebende Alphabetisierung befördert daher ein Wissen über die Vielschichtigkeit und Komplexität der bestehenden rechtlichen Regelungen, die den Umgang mit audiovisuellen Medienplattformen, Archiven und Datensätzen strukturieren – vom Urheberrecht bis zu den „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ oder terms and conditions,

von der Zulassung oder Nicht-Zulassung visueller Beweise vor Gericht bis zur Gesetzgebung für Bilder, die gegen geltendes Recht verstoßen (und daher durch menschliche Arbeit oder durch automatisierte Prozesse zensiert und verändert werden). Mehr noch, eine solche Alphabetisierung würde dazu befähigen, besser zu verstehen und so damit umzugehen, wie das Herstellen, Betrachten, Bearbeiten, Durchsuchen und Verarbeiten von Bildern von den Regeln und Beschränkungen des Rechts und der Strafverfolgung beeinflusst wird – einschließlich der zahlreichen Ausnahmen und Schlupflöcher, die zur enormen Formbarkeit und Volatilität dieser Regeln und Beschränkungen beitragen.

Zur Plastizität des Rechts tragen die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Gesetzgebung, Rechtsberatung, Politikgestaltung (auf nationaler und transnationaler Ebene), technologischer Entwicklung, Handelsbestimmungen, wirtschaftlichen Interessen usw. bei; die Fähigkeit, eine „formalistische Lesart“ auf Rechtstexte anzuwenden, kann daher eine Voraussetzung dafür sein, sich in den juristisch-rechtlichen Infrastrukturen zeitgenössischer visueller Kulturen zurechtzufinden.

In diesem Zusammenhang ist das „‘juristische Moment‘ in der künstlerischen Produktion“ (McLean 2010; Parsley 2022) zu nennen, eine Hinwendung zu Fragen der Legalität und der Gerichtsbarkeit und ein „juristisch-visueller Aktivismus“ (Feldman 2017) in der zeitgenössischen Kunst, der durch konzeptuelle Praktiken der späten 1960er/frühen 1970er Jahre eingeleitet wurde und seither eine Vielzahl zeitgenössischer Praktiken hervorgebracht hat, kann sich als Ressource erweisen, um „die institutionellen Konstruktionen von Kunst- und Rechtswelten aufzubrechen und eine Form des ‚widerständigen (Un-)Formalismus‘ anzubieten, der Materie und Wandel berücksichtigt und Konvergenz als Medium behauptet“ (Finchett-Maddock 2019).

Eine mit Mitteln der künstlerischen Forschung erreichte Verbindung politischer, ästhetischer und juristischer Expertise wäre hineinzutragen in den Kontext weitreichender, intersektionaler politischer Kämpfe gegen Verletzungen von Menschen- (und Tier-, Umwelt-)rechten, gegen racial profiling, gegen antisemitische Gewalt, gegen die Marginalisierung von ethnischen Minderheiten, Frauen, nicht-konformer Sexualitäten, Menschen mit Behinderungen, gegen sexualisierte Gewalt, weiße Vorherrschaft, Speziesismus, Klimaunrecht, und für Dekolonisierung, Indigenität, Fürsorge, gegenseitiger Hilfe, Degrowth.

Anstatt nach einem Ort zu suchen, an dem das Recht verbessert und humanisiert werden kann, sollte sich die Entwicklung einer radikalen juristischen Bildung mit der operativen Macht der juristischen Matrix auseinandersetzen, um den Zugang zum Verständnis zu erleichtern und abolitionistische Anliegen zu unterstützen, die darauf zielen, die Ökonomie der Gewalt zu überwinden, die das Recht seit seinen Anfängen mit sich bringt.

Nicht zuletzt wird sich eine solche radikale Rechtsbildung, eine solche Mobilisierung des Rechts „von unten“, mit der Gewalt und dem Unrecht befassen, die von Bildern und Bildmachern in Zeiten eines „visuellen Rechtsstreits“ (Maayan Amir 2022) begangen werden. Denn Bilder werden regelmäßig zu Tätern, zu Täterbildern, die vor Gericht gehören. Dies würde jene „grausamen Bilder“ (Oraib Toukan) betreffen, die diejenigen zum Schweigen bringen, die versuchen, auf die von ihnen dargestellten Gewalttaten (oder das Ergebnis solcher Taten) zu reagieren; es würde beweiskräftige Bilder betreffen, die zur Unterstützung von Rechtsansprüchen in der internationalen Politik herangezogen oder in den algorithmischen Militärapparat eingeschrieben (und in der Regel automatisiert) werden; darüber hinaus würde es sich auf Bilder beziehen, die in Systemen der digitalisierten Strafverfolgung operieren und damit im wahrsten Sinne des Wortes töten (oder helfen, die Bedingungen für das Töten zu schaffen),

Die Untersuchung der rechtlichen Matrix der audiovisuellen Praktiken und Produktionen kann jedoch nicht von Fragen der Gerechtigkeit und der potenziellen und tatsächlichen Rolle, die solche Praktiken und Produktionen bei der Suche nach einer gerechten Gesellschaft spielen, getrennt werden. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, die Forschung zur Verrechtlichung des Bildes mit einer gründlichen Ausarbeitung der Beziehung zwischen Bild und Gerechtigkeit zu verbinden. Recht und Gerechtigkeit mögen getrennte Sphären sein, aber wie viele Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Filmemacher*innen und Theoretiker*innen zeigen, können und sollen sie aufeinander bezogen werden. Auf diese Weise können Praktiker*innen in diesen Bereichen angesichts der multiplen Krisen auf planetarischer Ebene zu einer dringend benötigten „Erneuerung des sozio-juristischen Imaginären“ (Grear 2013) beitragen.

Verfolgt man diese Fragen weiter, sollte die Diskussion über die Verrechtlichung des Bildes ergänzt werden, indem man „den Rechtsformen des Eigentums größere Aufmerksamkeit schenkt“, wie Brenna Bhandar und Alberto Toscano argumentiert haben, um „den unbewussten Charakter zu problematisieren, der dem Warenaustausch als einer Form der praktischen Abstraktion zugeschrieben wird“. Sven Lütticken zufolge „werden Rechtsformen bewusst als reale Abstraktionen ausgearbeitet, die in der sozialen Welt wirksam sind. Die

Wertform im Kapitalismus ist zutiefst abhängig von den vermeintlich universellen Rechten, die der abstrakten Person zugestanden werden – insbesondere dem Recht, Eigentum zu besitzen“ (Lütticken 2022, 241).

Zweifellos sind die Rechtsformen, die die reale Abstraktion mit sich bringt (und die spezifischen Abstraktionen, die durch das Recht induziert werden), entscheidend von der aktuellen Blase der Generativen Künstlichen Intelligenz (NFTs, ChatGPT, images.ai, DALL·E 2, Stable Diffusion etc.) geprägt. Das Ausmaß, in dem die techno-ökonomische Entwicklung den juristisch-ontologischen Status von Bildern weiterhin beeinflussen wird, könnte sich als relevant für die Bewertung der Auswirkungen der rechtlichen Matrix auf die Praktiken und die Produktion des Audiovisuellen erweisen.

In Anbetracht dieses Dilemmas muss betont werden, dass das Projekt nicht nur auf die Identifizierung und Beschreibung der Rechtsform abzielt, die den „Bildkomplex“ organisiert. Es erkennt zudem an, was der Philosoph Jean-François Lyotard „den Widerstreit“ genannt hat.

Für Lyotard ist das Konzept des différend entscheidend, um in einen Bereich der Gerechtigkeit vorzudringen, der im juristischen Diskurs systematisch verleugnet und negiert wird: „Der différend ist der instabile Zustand und der Augenblick der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gefasst werden können muss, noch nicht sein kann.“ Wichtig ist, dass der différend „das Schweigen einschließt“, indem es die „prinzipiell möglichen Sätze“ und folglich das Gefühl der Wortlosigkeit aufruft. Lyotard fordert daher „neue Regeln für die Bildung und Verknüpfung von Sätzen, die in der Lage sind, das durch das Gefühl aufgedeckte différend auszudrücken, es sei denn, man will, dass dieses différend gleich in einem Rechtsstreit erstickt wird und dass der durch das Gefühl ausgelöste Alarm umsonst war“ (Lyotard 1983/1988, 13).

Der „Alarm“, der durch das „Gefühl“ ausgelöst wird, dass der juristische Diskurs versagt und man sich in der Stille, die jenseits des Rechtsstreits herrscht, sprachlos fühlt, ist der Auslöser für das „grausame Bild“ und die techno-militärisch-kolonialen Visualitäten, die zwar das Gesetz exekutieren, aber ihrerseits Gewalt jenseits der Worte erzeugen. Die Suche nach neuen Idiomen des Visuellen, die sich dem Rechtsstreit entziehen, kann nicht-verpflichtende, widerspenstige und letztlich gesetzlose Bilder zum Vorschein bringen – Bilder, die schweigen, statt zum Schweigen zu bringen; Bilder, die idiomatisch sind. statt symptomatisch.

 

Projektziele

Viele Jahrzehnte, bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2014 hat Harun Farocki über Bilder und ihre Funktion als Dokument und Beweismittel nachgedacht. In Bildpraktiken, so zeigt seine Forschung, stellen sich Fragen von Macht, Wissen, Arbeit, Gewalt, Recht und Ästhetik. Während sein Werk als frühes Beispiel eines forensischen Ansatzes für Bilder begriffen wurde, bietet es auch weitere Ansatzpunkte für ein grundsätzliches Nachdenken über die rechtlichen Implikationen von Kunst und visueller Kultur.

Die Analyse der gegenwärtigen Häufung globaler und planetarischer Krisen lässt sich nicht trennen von dem Versuch, den Zusammenbruch jenes Wahrheitsregimes zu begreifen, in dem sich die westlichen Vorstellungen von Aufklärung, Modernität, Liberalismus und Demokratie einmal organisierten. Auf dem Hintergrund dieses Krisen-Komplexes hat die Bedeutung der Sphäre des Rechts erheblich zugenommen. Die Verrechtlichung sozialer, ökonomischer und sozialer Realitäten verspricht ein Mehr an Kontrolle. Zugleich bringt sie neue Akteur*innen der Durchsetzung und Beobachtung dieser Rechtsverhältnisse hervor.

Diese Entwicklung hin zu einer (Über-)betonung des Rechts ist auch in der bildenden Kunst, im Film und in der visuellen Kultur insgesamt spürbar. Um die Funktionsweise der rechtlichen Matrix, in welche Bilder eingelassen sind, anschaulich und verständlich zu machen, zielt das vorgeschlagene kuratorische Projekt darauf ab, eine künstlerische Forschung zu veranlassen, die zugleich auf eine “Alphabetisierung” zielt, auf die Befähigung, auf die volatilen rechtlichen Rahmenbedingungen künstlerischen Handelns und visueller Produktion souverän zu reagieren.

Das Ineinander von Rechtsformen und dessen, was als Bild auf den Bildschirmen, auf der Druckseite, in den Räumen der zeitgenössischen Kunst erscheint, wird so zum Gegenstand künstlerischer Verfahren und Wissensformen, die wiederum auf einen allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs einwirken.

Maßgeblich inspiriert von der Kritik an dokumentarischen und operativen Bildern, die Harun Farocki in Projekten zu Überwachung und Strafverfolgung betrieben hat, stehen folgende Aspekte im Zentrum:

a) die Verschränkungen von zeitgenössischer bildender Kunst und Film und Recht (von Vertragspraktiken bis zur forensischen Wende);
b) die Infrastrukturen und Verkehrsformen des Rechts, die über Sichtbarkeit (und Unsichtbarkeit) von Bildern bestimmen;
c) audiovisuelle Medien, wie sie in Strafverfolgung, Gerichtsverfahren und anderen juristischen Kontexten im Einsatz sind;
d) Bilder und Bildproduzent*innen, die zu einflussreichen Akteur*innen bei der Problematisierung rechtlicher Rahmenbedingungen auf der Suche nach einer gesellschaftlich verankerten Form der Gerechtigkeit geworden sind;
e) visuelle / diagrammatische Repräsentationen des Rechts im Kontext – zunehmend AI-gestützter – Rechtsinformatik

Das Projekt setzt sich zusammen aus einer sorgfältig kuratierten Abfolge von kleinen Ausstellungen (den „Fallstudien“), Publikationen, Workshops und Screenings. In enger Zusammenarbeit zwischen den Partner*innen werden die politischen und ästhetischen Dringlichkeiten der Eingriffe von Gesetzgebung und Regulierung in den Bereich der zeitgenössischen Bilderzeugung und -verbreitung untersucht und kartiert – einschließlich Urheberrechtsfragen, „Rechten am (eigenen) Bild“, Vertragsangelegenheiten, Zensur, „Inhaltsmoderation“ usw.

Zentrales Ziel ist ein umfassender Kompetenzgewinn unter den Teilnehmer*innen und in der interessierten Öffentlichkeit – ein vertieftes, im Sozialen verankertes und daher ermächtigendes Verständnis der rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen Bilder – künstlerische und andere – produziert, in Umlauf gebracht, betrachtet, verwendet und wiederverwendet werden. Auf diese Weise soll die kritische Souveränität von Einzelnen und Kollektiven gegenüber (und im Umgang mit) Gesetzen, Rechtsvorschriften und Rechtsstreitigkeiten gestärkt werden.

 

Harun Farocki Institut – April 2024

 

 

Literatur

Amir, Maayan (2022), “Visual Lawfare: Evidential Imagery at the
Service of Military Objectives,” Journal of Visual Culture 21, no. 2 (2022): 321–348

Bhandar, Brenna und Alberto Toscano (2015), “Race, Real Estate and Real Abstraction,” Radical Philosophy 194 (November / Dezember 2015): 8-17

Feldman, Avi (2017), After the Law: Towards Judicial-Visual Activism, PhD dissertation, Reading School of Art 2017

Finchett-Maddock, Lucy (2019), “Forming the Legal Avant-Garde: A Theory of Art/Law,” Law, Culture and the Humanities 19, no. 2 (2019): 320–351

Kamir, Orit (2005), “Why ‘Law-and-Film’ and What Does it Actually Mean? A Perspective,” Continuum: Journal of Media & Cultural Studies 19, No. 2 (Juni 2005): 255–278

Lütticken, Sven (2023), Objections: Forms of Abstraction, Vol. 1 (London: Sternberg Press, 2023)

Lyotard, Jean-François (1983/1987), Der Widerstreit [1983], übers. Joseph Vogl (München: Fink, 1987)

MacKenzie, Adrian und Anna Munster (2019), “Platform Seeing: Image Ensembles and Their Invisualities,” Theory, Culture & Society 36, no. 5 (2019): 3–22

McLagan, Meg und Yates McKee, “Introduction,” Sensible Politics. The Visual Culture of Nongovernmental Activism (New York: Zone Books, 2012), 9–28

McLean, Daniel (2010), “The Artist’s Contract / from the Contract of Aesthetics to the Aesthetics of the Contract,” Mousse (1. September 2010),

Mnookin, Jennifer L. (2014), “Semi-Legibility and Visual Evidence: An Initial Exploration,” Law, Culture and the Humanities 10, no. 1 (2014): 43–65

Parsley, Connal (2022), “Contemporary Art in the Aftermath of Legal Positivism: The ‘Other’ Contract Art as Material Jurisprudence,” Pólemos 16, no. 2 (2022): 247–270

Rose, Nikolas and Mariana Valverde (1998), “Governed By Law?,” Social and Legal Studies 7, no. 4 (1998): 541-551

 

Impressum: Rosa Mercedes 08: Terms and Conditions
Herausgeber*innen: Harun Farocki Institut

 

10.04.2024 — Rosa Mercedes / 08