Unite behind the signs. Ökologie, Ökonomie und Guattari im Licht kritischer Semiotik
„Tschernobyl und AIDS haben uns schonungslos die Grenzen der technisch-wissenschaftlichen Macht der Menschheit sowie die ‚Kurbelrückschläge‘ aufgezeigt, welche die ‚Natur‘ für uns bereithalten kann.“ (32)
„Eine andere Art von Algen, dieses Mal in den Bereich der sozialen Ökologie fallend, besteht in der Wucherungsfreiheit, welche Leuten wie Donald Trump gewährt wird, […]“ (34)
Diese Sätze stammen aus einem schmalen Buch mit dem Titel Die drei Ökologien (Les trois écologies) des französischen Psychoanalytikers und Philosophen Félix Guattari (1930–1992) [hier und im Folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung von Alec A. Schaerer (Wien: Passagen 1994)].
Von heute aus wirken diese Sätze wie gespenstisch vorausgeworfene Schatten der späteren Großereignisse Rechtspopulismus, Ukraine-Krieg und Corona.
Und man ahnt, dass ein Text, der schon vor 33 Jahren just diese Beobachtungen heraushob und miteinander verband, eine klare Vorstellung davon hatte, was relevant bleiben würde.
Sein Inhalt lässt sich knapp so umreißen: Zum einen übt Guattari eine umfassende Zivilisationskritik. Er gibt eine grobe Bestandsaufnahme von Krisen und Bedrohungen der Natur, der demokratischen Gesellschaft, der Menschheit. Zum anderen macht er einen konkreten Verbesserungsvorschlag. Die Handlungsebene, auf die sich Guattaris Vorschlag richtet, ist die der diskursiven Praxis – ausgehend von der geläufigen Erkenntnis, dass Kommunikation Tatsachen nicht nur beschreibt, sondern selbst schafft. Guattari plädiert dafür, diskursives Handeln semiotisch (zeichentheoretisch) zu reflektieren. Sein Befund: Die Industriegesellschaft funktioniere durch drei „semiotische Regime“ – ökonomische, technisch-wissenschaftliche und rechtliche Prozesse. Ein vierter Mechanismus bewirke als Schnittmenge dieser genannten drei die Subjektivierung von Einzelnen und Gruppen. Um nun sowohl falsche Trennungen als auch falsche Vermischungen dieser drei Subjekt-Komponenten zu heilen, setzt Guattari auf drei Gegengifte: Umweltliche, mentale und soziale Ökologie. Diese tri-visionäre Rekonstruktion von Subjektivität sei notwendig, um dualistische Diskurs-Schablonen wie Subjekt/Objekt, Geist/Körper, Mensch/Umwelt oder Kapital/Arbeit zu überwinden. Ziel ist es, eine zugleich klarere und vielfältigere Selbst- und Fremdwahrnehmung zu ermöglichen, ein verantwortungsbewussteres Handeln zu motivieren. Guattari gibt dem Projekt den Arbeitstitel Ökosophie.
Nun kann man es zugleich für trivial und abwegig halten, Diskursverbesserung zum Mittel der Wahl zu erklären, wenn es um das Beheben globaler Probleme geht. Trivial, weil niemand es bestreiten würde, dass Kommunikation alle gesellschaftlichen Prozesse mitbedingt. Abwegig, weil es doch endlich um Handfestes gehen muss – ein anderes Produzieren und Konsumieren, ein anderes Regulieren und Verteilen.
Das stimmt wohl. „Verbesserungsvorschläge am Diskurs“ wirken angesichts jedes beliebigen News- oder Social-Media-Feeds längst wie Pillendreherei scheinprogressiver Bildungsschichten. Und hat sich seit dem Erscheinen von Die drei Ökologien nicht sowieso vieles verändert?
Ja. Allerdings nicht so vieles und nicht so sehr, dass das Buch an Sinn und Bedeutung verloren hätte. Im Gegenteil.
Zum einen sind die in ihm beschriebenen Krisen dieselben geblieben. Sie haben sich, lakonisch gesagt, lediglich extrem verschärft.
Und zum anderen mag auch die Handlungsebene der Kommunikation, auf der Guattari verbessernd aufbauen wollte, inzwischen zwar neue Oberflächen ausgebildet haben – aber kein völlig verändertes Grundprinzip. Jedenfalls semiotisch nicht.
Zwar sind also die damals erst aufdämmernden Umwälzungen der Globalisierung und Digitalisierung mittlerweile weit fortgeschritten, und sind deren psycho-soziale Auswirkungen heute deutlicher erkennbar.
Bedenkt man aber, wie unvorhersehbar in den späten 1980er Jahren Internet, Smartphones, Soziale Medien, Digitalgeld und der globale Rechtspopulismus noch gewesen sind (sieht man einmal vom französischen prä-Internet-Sonderweg des Minitel ab), erweisen sich viele damalige Feststellungen Guattaris als bemerkenswert nachhaltige Quellen kritischer Auseinandersetzung – und zwar als nachhaltig in einem von ihm tatsächlich so beabsichtigten Sinn: als kultur-ökologisch nachhaltig.
„Nach den digitalen und robotischen Revolutionen, nach dem Aufschwung des genetischen Genius und nach der weltweiten Verknüpfung aller Märkte werden die menschlichen Arbeit und der Lebensraum nie wieder werden, was sie noch vor einigen Jahrzehnten waren.“ (32)
Was ist passiert?
Was also ist gleich geblieben, was hat sich verändert? Und inwieweit macht der heutige Kontext die Thesen Guattaris vermehrt oder vermindert anwendbar? Der Reihe nach.
Guattaris Text ist 1989 in einer Zwischenphase der Krisendiskurse und der Diskurskritik entstanden.
In den 1960er Jahren fanden Darstellungen von Umwelt- und Gesellschaftsproblemen in größeren Medien noch relativ selten und verdünnt statt – waren eher Sache der Protest- und Gegenkulturen, auch der akademischen. Ab den frühen 70ern nahm ihre massenmediale Sichtbarkeit dann zwar stark zu. Doch auch damals, und selbst in den 80er Jahren, wurden Hinweise auf die Gefahren durch Raubbau an Natur, Tieren, Menschen noch hartnäckig bestritten – ökologisch und ökonomisch.
Um nur an zwei Facetten der damaligen Zuteilung von Beweislast zu erinnern: Die schon wenig später wild wuchernde Branche „Klimawandelleugnung“ hatte damals noch nicht mehr als eine namenlose Knospe ausbilden müssen. Und neo-liberale Formeln wie die vom „Ende der Geschichte“ besaßen 1989 allen Ernstes einen optimistischen Klang.
Das ist heute anders. „Das Ende“ wird heute überwiegend dystopisierend verkündet – als Ende wirtschaftlicher und sozialer Stabilität, Ende politischer Sicherheit, Ende planetarer Bewohnbarkeit.
Denn die Krisen haben sich intensiviert. Die Kommunikation darüber konnte nicht länger Tabu bleiben.
Jeder halbwegs informierte Erwachsene ist inzwischen mit zahllosen Darstellungen der großen Verwerfungen in Umwelt und Gesellschaft in Kontakt gekommen. Selbst wer nur Spielfilme guckt, darf als in diesem Sinne unterrichtet gelten.
Mehr noch. Endzeit-Meldungen haben dermaßen Konjunktur, dass sie sich immer mehr zum weißen Rauschen eines abstumpfenden Überalarms neutralisieren, ja offenen Trotz provozieren. Krisenbezogene, kritische Kommunikation ist dabei, das psycho-ökologische Klima zu überhitzen und aufmerksamkeitsökonomisch Hyperinflation zu erleiden.
Aber auch dieser Befund zum Heute – dass Kommunikation über Krisen selbst Teil dieser Krisen ist und zu ihrer Verschlimmerung beiträgt – lag nicht außerhalb des damaligen Horizonts von Guattari. Er ist vielmehr sein Ausgangspunkt gewesen.
„Nicht nur die Arten verschwinden, sondern auch die Worte, die Sätze und die Gebärden der menschlichen Solidarität.“ (35)
Guattari ging aus von der schlichten Korrelation, dass das Übermaß an Naturzerstörung mit einem Übermaß an Kulturproduktion einhergeht. Ein Kausalzusammenhang zwischen diesen beiden Phänomenen lässt sich schon darin erkennen, dass Kultur Zeichen-Verwendung ist und Zeichen auf gestalteter Trägermaterie basieren.
„Der postindustrielle Kapitalismus, den ich selbst lieber als Weltweiten Integrierten Kapitalismus (WIK) bezeichne, strebt immer mehr danach, die Machtherde seiner Produktionsstrukturen für Güter und Dienstleistungen zu dezentrieren, hin zu den Produktionsstrukturen für Zeichen, Syntax und Subjektivität, und zwar insbesondere durch Kontrolle der Medien, Werbung, Umfragen und so weiter.“ (40)
Dualistische Begrifflichkeiten allerdings – wie die von Natur/Kultur oder Materiellem/Immateriellem – wollte Guattari hinter sich lassen. Er hielt es für notwendig, nicht nur zwei, sondern drei Komponenten in den Blick zu nehmen, um menschliches Handeln zu verstehen.
Das zentrale Thema in Die drei Ökologien ist Subjektivierung – das Entstehen aller möglichen Arten von Subjektivität. Und um diesen Prozess zu beschreiben, reichte es Guattari nicht, den dichotomischen Unterschied Subjekt/Objekt als gegeben vorauszusetzen. Er fächerte Subjektivierung dreiteilig auf in das Zusammenwirken „ökonomischer“, „mentaler“ und „sozialer“ Prozesse.
Diese drei Prozesse bezeichnet Guattari als „Semiotiken“.
Zwar benennt er in Die drei Ökologien nicht näher, ob er einer bestimmten semiotischen Strömung folgt. Und er verwendet auch kaum zeichentheoretische Begriffe. Doch bereits 1989 waren in der Semiotik nicht-anthropologische Ansätze vorherrschend – Theorien, die Erkenntnis weder an biologische Spezies noch an biologische Individuen knüpften. Allein dieser Umstand dürfte Semiotik für Guattaris Ökologien-Projekt als ein denkbar unbeschwertes, wendiges Gedankenfahrzeug nahegelegt haben. Angesichts von Tierausbeutung und Artenausrottung, von Nationalismus und Identitätskonflikten brauchte es damals wie heute eine Methode der Beschreibung, die aus den diskursbeherrschenden Subjekt-Begriffen herauszutreten imstande ist, ohne dort die Orientierung zu verlieren.
Darin besteht der praktische und ethische Nutzen von Semiotik. Die vielgestaltigen, redundanten Besonderheiten je aktuell ablaufender Ereignisse lassen sich oft leichter verstehen und besser beurteilen, indem man sie als Zeichenprozesse begreift und von ihren semiotischen Gemeinsamkeiten her betrachtet.
Semiotische Verallgemeinerung befähigt dazu, in unterschiedlichen Themen, Situationen, Feldern herauszufiltern: Welche Komponenten sind in diesem Feld zur Subjektivierung notwendig und hinreichend, und wie wirken sie zusammen? Weil semiotische Beschreibungen ihren Weg systematisch von diesem Ziel herleiten können, machen sie sich nicht nur theoretisch transparent, das heißt methodisch kritisierbar, sondern auch kritik-praktisch, ethisch anwendbar.
Kritische Semiotik hat den Sinn, den subjektiv individuellen Bedarf an Orientierung zur Erfahrung von Gemeinschaft zu machen. Unite behind the signs.
„Die Individuen müssen solidarisch und zugleich immer unterschiedlicher werden.“ (72)
Ökologie & Ökonomie
Einen solchen Weg vom aktuell Besonderen zum semiotisch Allgemeinen möchte ich im Folgenden aufzeichnen. Im Verlauf dieses Weges werde ich versuchen, einige methodische Fragen zu klären, die in Die drei Ökologien offen geblieben sind.
Das Besondere, bei dem ich beginne, ist der Diskurs, der schon in Guattaris Buch thematisch im Mittelpunkt stand, und dessen Aktualität seither nur zugenommen hat: Der Diskurs um Ökologie und Ökonomie.
Wohl in kaum etwas anderem findet die gegenwärtige Auseinandersetzung über Krisen von Umwelt und Menschheit deutlicher ihren Ausdruck als im oft beschworenen Spannungsverhältnis dieser beiden Begriffe.
Seit selbst im Abendprogramm „Umweltzerstörung“ und „Raubtier-Kapitalismus“ gesagt werden darf, ist das Duo Ökologie & Ökonomie nachgerade zu einem household name geworden – geläufig wie Tweedledee & Tweedledum, Procter & Gamble oder Fish & Chips.
Der konkrete Gebrauch dieses Begriffspaares ist allerdings längst nicht frei von Verwischungen und ideologischen Verschleierungen.
Mehrheitlich einig zeigt man sich heutzutage zwar darin, wie verkehrt es war, „Ökologie“ lediglich als „Umwelt“-Beziehungen zu begreifen – als naturgegebene „Rand“-Bedingungen, die scheinbar außerhalb der menschlichen Gesellschaft liegen und scheinbar ewig fortbestehen. Selbst Konservativ-Liberale räumen inzwischen ein, dass die „externen Kosten“ der meisten Produktionsweisen „vom Markt“ nicht eingepreist werden – dass „Schadschöpfung“ unbeziffert bleibt.
Da es bei Ökologie dem allgemeinen Verständnis nach also nicht mehr nur um Naturschonung gehen kann, sondern sämtliche Belange von Ressourcenmangel und Knappheit betroffen sind – sämtliche Arten des mehr oder minder effizienten Produzierens und Konsumierens –, müsste „Ökologie“ eigentlich längst mehr als nur Umwelt-Beziehungen bezeichnen, nämlich schlicht allgemein Wirtschaft.
Dieser Referent aber ist bereits gebucht. Denn für Wirtschaft ist bekanntlich eine andere Bezeichnung gebräuchlich: „Ökonomie“.
Weil der Begriff „Ökonomie“ wiederum, wie eben gesagt, eingestandermaßen Naturverschleiß als Probleme von „Umwelt“ out-sourced, fragt sich, welche Auffassung von Wirtschaft für ihn übrigbleibt – ja, was er wirklich bedeutet?
Seinem üblichen, un-ökologischen Gebrauch nach kann der Begriff „Ökonomie“ tatsächlich nicht mehr bezeichnen als lediglich die rechtlichen Bedingungen des Tauschs, sprich den Bereich der Markt-Ordnung, der Regeln und Gesetze. Lose skizziert: Import- und Exportregeln (Zölle, Freihandel, Qualitätsnormen), Arbeitsmarktregeln (geltende Lohn-, Tarif-, Sozialniveaus), Steuerregeln (für Einkommen, Gewerbe, Körperschaften), Geldpolitik (Zinspolitik, Geldmengensteuerung, Digitalgeld) usw.
„Ökonomie“ kann also gerade nicht die materiellen Aspekte des Erzeugens und Verbrauchens bezeichnen, sondern lediglich die ideellen, normativ-rechtlichen Aspekte des Wirtschaftens. Materielles umfasst Ökonomie allenfalls im Sinne des Vollzugs, des Umsetzens und Durchsetzens von Rechtsverhältnissen und von Marktregulierungen bzw. Deregulierungen.
Im üblichen Gebrauch aber dehnt der Begriff „Ökonomie“ seine begrenzte Bedeutung – rechtliche Eigentumsverteilung – auf die Umwelt der gesamten wirtschaftlichen Wertschöpfung aus: auf „Ökologie“.
Politisch heißt das: Ökonomie weitet diskursiv ihre begrenzte juridische Bedeutung zu einem Imperium aus, in welchem sie ihr Monopol auf Ressourcen staatlicher Gewalt zugleich verbergen kann.
Dass unter „Ökonomie“ so lang und zumeist noch immer Wirtschaft im Sinne materiellen Produzierens und Dienstleistens verstanden wurde, ist fast erstaunlich, da der Begriff seinen rechtlichen Schwerpunkt ja sogar explizit enthält: Nomos = Gesetz, Oikos = Haushalt, „Ökonomie“ also „Gesetz des Haushaltens“.
Demgegenüber deutet das „Logos“ in „Ökologie“ insofern eher auf die materielle Beziehung zum Haushalten hin, als logoi – Begriffe/Konzepte von (Um-)Welt – erst im praktischen Handeln verwirklicht werden, auch im physischen Sprech- und Schreibhandeln, und auch in der individuellen Selbsterfahrung auf Basis des eigenen Körpers. Beim Nachdenken über den Begriff „Logos“ kommt Goethe im Faust zu dem Schluss, der erste Satz des Johannes-Evangeliums müsse eigentlich lauten: „Im Anfang war die Tat“.
Man kann daher verschachteln: Ökologie umfasst jedwedes Handeln, Ökonomie lediglich Tauschhandeln – Eigentumsübertragung ist ein Rechtsakt.
Ökologie/Wirtschaft umfasst die materielle Austauschbeziehung von Lebewesen und Umwelt – auch der sozialen Umwelt –, den sozial organisierten Stoffwechsel individueller und kollektiver Subjekte. Innerhalb dessen umfasst Ökonomie/Recht lediglich die Verteilungsbeziehungen der Subjekte – die Austauschbeziehung von Lebewesen und Lebewesen –, also die ideellen Gesetze ihrer materiellen Beziehungen.
Bildlich kann man die Begriffe und ihre Beziehungen so veranschaulichen – und dabei auch die oben erwähnten semiotischen Unterscheidungen Guattaris aufnehmen:
Warum wäre diese klare Unterscheidung von Ökologie (Produktion/Konsumption) und Ökonomie (rechtlicher Distribution) aktuell wichtig?
Im politischen Diskurs wird diese Unterscheidung in aller Regel noch immer verwischt, und das oft genug bewusst. Die Rede ist dann gern vom „Zusammendenken von Ökologie und Ökonomie“, von deren „Verbindung“ und „Aussöhnung“.
Gemeint sind damit entweder „Kompromisse beim Umweltschutz“ zum „Erhalt von Arbeitsplätzen“ (in diesen Fällen wird Ökologie von ihrem eigenen inneren Organ Ökonomie buchstäblich aufgezehrt, als Selbst-Kannibalisierung qua Diskurs).
Oder das „Zusammendenken“ besteht darin, „Ökologie sozial abzufedern“, „beim Umweltschutz die Menschen mitzunehmen“. Konkret heißt das bisher vor allem, verknappungsbedingt steigende Preise durch alle möglichen „Einmalzahlungen“ und „Tankrabatte“, durch „Bürgergeld“, „Energiegeld“, „Helikoptergeld“ abzusenken. Ökologische Verknappungen werden ökonomisch bestritten. Zinsloses Zentralbankgeld und die grenzenlose Ausweitung der Geldmenge sind die rechtliche Form des Klimawandelleugnens.
Sie sind aber auch Selbstverleugnung des Rechtstaats. Denn all diese fiskalisch-monetären „Hilfspakete“ und „Aufkaufprogramme“ sind am Ende immer Subventionen für bestimmte Branchen, Konsumenten, Lebensstile – in ihrer Lenkungswirkung fragwürdig, und gemessen am Gleichheitsgrundsatz problematisch, wenn nicht rechtswidrig.
Textlich gefasst in oberflächliche Begriffe mit schwankender Tagesaktualität lenken sie ab von dem, was im Grunde erforderlich und geeignet wäre: De-Growth (ökologisch) und strukturelle Umverteilung (ökonomisch) strikt getrennt voneinander zu diskutieren: Was für einen Kuchen können wir backen? Und wie wollen wir ihn aufteilen? Oder deutlicher gefragt: Wieviel Naturzerstörung können wir uns leisten? Und wieviel Ungleichheit wollen wir zulassen?
Nur das Entwirren dieser beiden Fragen kann politische Kontrahenten dazu bringen, sich den Lebenslügen ihrer jeweiligen Klientelpolitiken zu stellen. Marktverfechter müssten anerkennen, dass „Marktmechanismen“ und „Bepreisung“ Spekulationsspiralen, unkontrollierbare Teuerung und geo-ökonomische Unwuchten verstärken. Ungleichheitsbekämpfer müssten anerkennen, dass Verschuldung zu Wachstum zwingt. Erstere müssten einräumen, dass vor allem Wohlhabende auf viele Gewohnheiten werden verzichten müssen. Letztere müssten einräumen, dass auf bestimmte Gewohnheiten aber auch Wenig-Besitzende werden verzichten müssen.
Das diskursive Verwischen von Ökologie und Ökonomie ist also kein Zufall – es ereignet sich interessenbedingt. Jede der drei oben gezeigten Komponenten „Oikos, Logos, Nomos“ bringt ein eigenes Interesse ein. Jede dieser Interessen ist Ausdruck eines eigenen Typs diskursiv erzeugter Subjektivität:
„Industrie“-Interessen sind die des Verkaufens, „Politik“-Interessen die des Gewähltwerdens (oder anderweitigen Machterhalts), dazwischen die Interessen der „Konsument*innen / Wähler*innen“, die es gern erschwinglich, komfortabel, sicher haben.
Zum Interesse der „Konsument*innen / Wähler*innen“ gehört es, möglichst wenig Verantwortungslast zu spüren. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft wird selbst Verantwortung als lästige Arbeit begriffen und kommodifiziert. Waren lässt man sich bringen, Müll abholen. „Woher, wohin? Nicht mein Problem.“ Wahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit, bis man Abfälle in eine Drohne von Amazon Trash füllen soll.
Die Betäubung von Verantwortung ist wesentlicher Prozess industriegesellschaftlicher Subjekt-Bildung. Beim Erwerb von Waren und Dienstleistungen soll man sich auf alle möglichen Standards verlassen können: Gesundheit, Sicherheit, Menschen- Tier- und Umweltwohl. Beim Wählen von Amtsträgern auf Standards der Gesetzestreue, Sachkenntnis, Gemeinwohlorientierung, des Anstands, der Sympathie, der Attraktivität. De facto alles illusorisch? Egal. Sich für Defizite dieser Standards beschimpfen zu lassen, ist Teil der Leistung von Industrie und Politik. Und selbst die Arbeit des Beschimpfens wird übernommen – von Medienwirtschaft, Künsten, Experten, NGOs.
„Die politischen Gebilde und die ausführenden Instanzen scheinen völlig unfähig zu sein, diese Problematik in der Gesamtheit ihrer Implikationen zu begreifen.“ (12)
Konsument*innen / Wähler*innen kommen im diskursiven Austausch dieser drei Interessen überwiegend als Passiv-Subjekte vor, als Objekte des Umsorgt-Werdens und Gegängelt-Seins.
Gleichzeitig drängen die unter wachsendem Effizienzdruck stehenden Subjekte Industrie und Politik die Wähler*innen / Konsument*innen in gegenläufiger Tendenz immer mehr zur Selbst-Optimierung und Privatvorsorge, nötigen die Individuen zur Selbst-Objektifizierung.
Der Diskurs um Ökologie und Ökonomie ist geprägt davon, Individuen Interessen einzureden und auszureden. Geweckt werden Ängste und Bedürfnisse, eingeschläfert werden Impulse der Selbsterfahrung und Empathie.
„Um sich vom einschläfernden Diskurs zu entgiften, den insbesondere das Fernsehen ab sondert, müsste die Welt fortan durch die drei auswechselbaren Gläsern betrachtet werden, welche unsere drei ökologischen Standpunkt bilden.“ (32)
„Offensichtlich muss die Sache kollektiver in die Hand genommen und gelenkt werden, um die Wissenschaften und Techniken auf menschlichere Zwecke hin auszurichten. Man kann sich nicht mehr blind auf die Technokraten der Staatsapparate verlassen, […]“ (32)
Nicht umsonst trägt dieser Umgang mit Verbraucher*innen bzw. Bürger*innen seit Langem Namen wie „Entmündigung“ oder „Infantilisierung“.
„Es ist nicht richtig, das Einwirken auf die Psyche, den Sozius und die Umwelt voneinander zu trennen. Die Weigerung, dem Zerfall dieser drei Bereiche ins Auge zu sehen, wie sie von den Medien aufrechterhalten wird, grenzt an das Vorhaben einer Infantilisierung der Meinung und einer destruktiven Neutralisierung der Demokratie.“ (31–2)
Die Einordnung „des Menschen“ zwischen Mutter Erde und Vater Staat hat eine lange begriffliche Tradition. Schon seit Jahrhunderten werden die Länder der Kolonial-Herrscher in Begriffen einer elterlichen Doppelrolle beschrieben: Als Mutterland und Vaterland (motherland/fatherland, métropole/patrie usw.).
„Mutterland“ meint dabei den Versorgungsaspekt des Heimatlandes. Aus dem Mutterland kommen ausgebildete Arbeitskräfte, Fahr- und Werkzeuge, Manufaktur- und Industriewaren, und dorthin zurück fließen die Rohstoffe, die unausgebildeten Zwangs- und Hilfsarbeitskräfte und Kolonialwaren aus den kolonisierten Gebieten. „Mutterland“ steht für den materiellen Aspekt eines Landes.
„Vaterland“ hingegen bedeutet eher den Ordnungsaspekt des (selben!) Heimatlandes. Aus dem Vaterland kommen Militär, Gesetze, Verwaltung, Post- und Geldwesen – und Kultur allenfalls im Sinne von normativer Gesinnung. Obwohl er sich analogerweise anböte, hat sich hierfür nicht der Begriff des Pateriellen gebildet. Allerdings unterstreicht auch diese Begriffslücke den Umstand, dass die Sphäre des Rechts diskursiv immer wieder verschattet oder gar ausgeblendet wird. Der herrschende Diskurs bildet manche Begriffe offenbar dezidiert nicht aus, um Herrschaft möglichst ungestört verwirklichen zu können.
Ein Zwischenfazit
Das Beispiel Ökologie & Ökonomie hat deutlich gemacht, wie der gegenwärtige Diskurs die Realität prägt – die der Gegenstände, der Psychen, der Gesellschaft. Und es wurde deutlich, worin die „semiotischen Regimes“ bestehen, die Guattari einer diskurs-ökologischen Entgiftung unterziehen wollte: Nämlich in den drei Kommunikationsebenen von Gesellschaft: Wirtschaft, Kultur, Recht. Es sind diese drei Sphären von Oikos, Logos, Nomos, in deren kommunikativem Austausch sich Gesellschaft permanent bildet. Die kommunikative Abgrenzung dieser drei Bereiche vollzieht sich in geschichtlich permanent neuen Unterscheidungen von Subjekten und Objekten, in immer neuen Selbst-Objektifizierungen.
Noch besser erkennen lassen sich die geschilderten Zusammenhänge aber, wenn man sich wirklich auf die Ebene semiotischer Begriffe begibt. Denn dann wird erkennbar, dass die dreiteilige semiotische Grundstruktur in vielen anderen Phänomenen zu diskursivem Ausdruck kommt. Vom Punkt semiotischer Verallgemeinerung aus wird vieles überschaubar, das in der Masse flüchtiger Alltagszeichen besonders und unzusammenhängend erscheint.
Erkennbar wird dann allerdings auch, was an Guattaris Die drei Ökologien unfertig und selbstwidersprüchlich geblieben ist. Ich will deshalb versuchen, den Text im Sinne seines Autors semiotisch zu vertiefen und ihn konstruktiv zu kritisieren.
Welche Semiotik verwendet Guattari?
Wie eingangs erwähnt, legt Guattari sich in seinem Text nirgends auf eine bestimmte semiotische Tradition oder Schule fest. Seine Kategorien der „semiotischen Regime“ und der „drei Ökologien“ folgen keiner anderswo begründeten Methode, auch keiner eigenen Systematik. Sie bleiben ohne Herleitung. Das ist insofern sonderbar, als Guattari beide Auflistungen als vollständig beschreibt. Die „semiotischen Regime“ werden als Gliederung des gesellschaftssystemischen Ganzen vorgestellt. Und „die drei Ökologien“ werden nicht nur im Titel enumerativ eingeführt, sondern auch im Text als „drei sich ergänzende Rubriken“ bezeichnet. Für keine der beiden Gliederungen gibt Guattari ein Unterscheidungskriterium an.
Fest steht gleichwohl, dass er Semiotik als ein Hauptwerkzeug der Erkenntnis behandelt, und dass er dabei bestimmte triadische Gliederungen anwendet. Zudem wirft er die theorie-kritische Frage auf, ob ältere Modelle in der Lage waren, eine „Kausalitätshierarchie“ zwischen den „semiotischen Regimen“ darzustellen (siehe 41)
Beides zusammen – triadische Gliederung und kausal-hierarchischer Aufbau – gibt einen deutlichen Hinweis auf die semiotische Strömung, die auf Charles Sanders Peirce zurückgeht. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass Guattari an einer Stelle zwei Begriffe benutzt, die in der Semiotik von Peirce geprägt wurden – Ikon und Symbol –, auch wenn er sich auf diese eher ex negativo bezieht:
„Hier entgeht man, zumindest teilweise, den Semiotiken einer ikonischen Modellbildung, und zwar zu Gunsten von prozessuellen Semiotiken, welche symbolisch zu nennen ich mich hüten werde, um nicht in strukturalistische Irrtümer zurück zu fallen.“ (60)
Guattari führt diese Kritik an „Semiologien“ und „Strukturalisten“ nicht weiter aus. Sie dient ihm lediglich dazu, das oft vernachlässigte Prozesshafte an Zeichen von diagrammatischen, verräumlichenden Vorstellungen abzugrenzen.
„Der Prozess, den ich hier dem System oder der Struktur gegenüberstelle, zielt auf die Existenz ab, die sich gleichzeitig konstituiert, definiert und deterritorialisiert.“ (36)
Auch damit ist er eng an Peirce. Dessen ganzer „pragmatizistischer“ Ansatz bestand ja eben darin, Bedeutung nicht als etwas zu begreifen, das starr besteht, sondern als etwas, das im Handlungsbezug entsteht. Um dieses verzeitlichende Verständnis von Erkenntnis ausdrücklich zu betonen, prägte Peirce einen eigenen Term: Semiose.
Alle diese Anhaltspunkte geben also einigen Anlass, näher zu untersuchen, ob und wie die Idee der drei Ökologien Guattaris dem semiotischen Prozess-Modell von Peirce entspricht.
Dazu möchte ich in Erinnerung rufen, wie die drei bekanntesten Begriffe in der Semiotik von Peirce – Index, Ikon, Symbol – als logisches Gefüge zusammenwirken und eine „Kausalitätshierarchie“ bilden.1
Die Peirce-Triade
Die drei Begriffe stehen für die drei verschiedenen Arten, auf welche ein Phänomen der äußeren oder inneren Wahrnehmung auf ein anderes verweisen, ein anderes bedeuten kann.
Die Bedeutung von Indices wird materiebasiert erkannt. Zum Beispiel kann Rauch „Feuer“ bedeuten.
Die Bedeutung von Ikonen wird ähnlichkeitsbasiert erkannt. Zum Beispiel kann ein roter Kreis „Tomate“ bedeuten.
Die Bedeutung von Symbolen wird regelbasiert erkannt. Zum Beispiel kann das Zeichen „!“ nach grammatischen Regeln einen „Ausruf“ bedeuten oder nach mathematischen Regeln die Funktion „Fakultät“.
Wichtig bei dieser Unterscheidung ist allerdings ein Punkt, der in der semiotischen Literatur oft nicht klar oder gar nicht benannt wird: Jedes Zeichen besteht aus allen diesen drei Aspekten. Man kann sich das am Beispiel „Rauchzeichen“ veranschaulichen:
Aufsteigender Rauch kann indexikalisch als Anzeichen von „Feuer“ gedeutet werden. Beim Feuer könnte es sich um einen natürlichen Brandherd oder ein Lagerfeuer handeln, beim Rauch dann also um ein nicht-kommunikatives Zeichen. Der Rauch kann aber auch bedeuten, dass das Feuer entzündet wurde, um Rauchzeichen aufsteigen zu lassen. Indexikalisch bleibt dieser Teil der Rauch-Feuer-Deutung offen.
Erst wenn im Rauch eine nicht-zufällige, offenbar artifizielle Struktur erkannt wird, bedeutet er ikonisch „Rauchzeichen“. Eine solche Struktur kann in doppelter Weise als Ähnlichkeit erkennbar sein: Einzelne Rauchzeichen können sich wiederholen – Selbstähnlichkeit. Oder einzelne Rauchzeichen ähneln anderen Phänomenen – Fremdähnlichkeit. Manche Cartoons machen den Witz, dass Menschen Rauchwolken-Bilder aufsteigen lassen, zum Beispiel Totenkopf-Wolken. Was dann allerdings mit dem Ikon „Totenkopf“ wirklich gesagt werden soll, bliebe ikonisch nun wiederum offen. Es könnte bedeuten „jemand ist gestorben“, oder „jemand wird sterben“ oder „jemand soll sterben“ oder etwas ganz anderes.
Diese dritte Deutungsstufe ist abhängig davon, welchem Code, welchem Regel- und Symbolsystem die Zeichen zugeordnet werden. Und in Wirklichkeit sind Rauchzeichen ja ohnehin keine „reinen“ Ikone wie Totenkopf-Bilder, sondern so abstrakte Symbole wie die Zeichen des Morsesystems oder des Alphabets.
Bei dieser Dreiteilung von Bedeutungsmöglichkeiten gilt: Sie sind in sich endlos ausdifferenzierbar. Sie können also Sub-Fragen aufwerfen wie: Ist die Rauchzeichen-Nachricht eine Feststellung, eine Ankündigung, eine Frage, eine Antwort, ein Appell, eine Amtshandlung? Ist sie wahr oder unwahr? Falls unwahr, ist sie irrtümlich unwahr oder gelogen? Gibt sie den tatsächlichen Urheber zu erkennen oder täuscht sie diesen vor? Richtet sie sich an „mich“, an andere „wie mich“ oder an Geister und Götter? Stammt sie von „solchen wie mir“, von „anderen“ oder von Geistern und Göttern? Von wo und wie lang steigt der Rauch auf? Handelt es sich um eine bestimmte Art von Rauch? Handelt es sich überhaupt eindeutig um Rauch?
Zwar sind derlei Deutungsfragen im Prozess der Semiose unendlich fortsetzbar. Aber jede solcher Fragen zerlegt das Zeichen letztlich in Sub-Zeichen, deren Deutung wiederum innerhalb der Kriterien-Triade stattfinden wird. Das vorläufige Ende des lediglich potentiell unendlichen Deutungsprozesses vollzieht sich schließlich im Reagieren des deutenden Subjekts. Und das heißt: Erst in seiner Reaktion wird das Subjekt für sich selbst und für andere überhaupt als Subjekt erfahrbar.
Zusammengefasst: Die semiotische Triade besteht aus der dreigliedrigen Fragekette: Was alles gehört zum Zeichen? Ist es ein kommunikatives Zeichen? Was kommuniziert das Zeichen? Die erste Frage betrifft seine Materialität. Die zweite seine Artifizialität. Die dritte seine Regularität (iSv. Konventioniertheit).
Die Peirce-Gliederung des Zeichens in Index, Ikon, Symbol entspricht Guattaris „semiotischen Regimen“ also genau:
Das Feuermachen ist ein Einsatz materieller Ressourcen – also Wirtschaft. Das technische Strukturieren macht den wirtschaftlichen Rauch-Akt als Botschaft irgendeiner Kultur-Gemeinschaft erkennbar. Und die konkret verwendeten Rauchzeichen-Typen folgen den Normen und Regeln einer bestimmten Regel-Gemeinschaft.
Auch Guattaris drei Ökologien verhalten sich konsequenterweise analog zu dieser Gliederung. Das Feuermachen liegt in der Umwelt. Die Rauchzeichen sind erkennbar als mental geplante Artefakte. Und die konkrete Botschaft der Rauchzeichen wendet sich an Angehörige der sozialen Sprachgemeinschaft.
Man kann festhalten: Zwar gibt Guattari für seine Gliederungen kein Unterscheidungskriterium an. Seine Begriffe folgen dennoch deutlich semiotischer Systematik – und diese hat ein einheitliches Unterscheidungskriterium: Sie gliedert die Vielfalt der Zeichen nach Komplexität. Wie eben beschrieben: Je mehr Artifizialität und Kommunikativität in einem Zeichen erkannt werden, desto komplexer wird es gedeutet. Die kommunikativen Aspekte bauen auf den nicht-kommunikativen auf. Darin wäre die „Kausalitätshierarchie“ zu sehen, deren Darstellung Guattari einfordert. Nicht jede beliebige Dreier-Konstellation also ist eine semiotische Triade.
Guattaris Selbstwidersprüche
Ob Guattari diese systematische Lesart seines Textes gebilligt hätte, ist allerdings fraglich. Denn methodisch ist Die drei Ökologien selbstwidersprüchlich.
Einerseits sagt Guattari mehrfach, dass ihm als diskurskritische Praxis kein Programm, kein System vorschwebt. Andererseits bewegt sich der größte Teil von Die drei Ökologien doch sehr passgenau im Windschatten semiotischer Systematik.
In den anti-systematischen Passagen plädiert Guattari für belletristische Diskursformen. So spricht er sich etwa für Musik und Poesie als alternative Gebiete „deterritorialisierte[r] ‚Nationalitäten’“ und „molekulare[r] Revolutionen“ aus. Für „unverzichtbar“ hält er „narrative Elemente“ zur Theoriebildung von „Irreversibilität“ und Geschichtlichkeit. Bei einem Co-Autor der kulturkritischen Themencollage Mille Plateaux ist man unmittelbar an das darin gebrauchte Bild des „rhizomatischen“ Erzählens erinnert.
Doch die Schwelle seines Methoden-Gegensatzes wird erkennbar in Sätzen wie diesen:
„Hier soll kein schlüsselfertiges Gesellschaftsmodell, sondern bloß eine Übernahme der Verantwortung für die Gesamtheit der ökosophischen Bestandteile vorgeschlagen werden […]“ (65)
Und weit überwiegend geht er dann den Weg, Praxis-Veränderung mit dem Werkzeug der semiotischen Triade zu entwerfen, sehr entschieden:
„Hoffen wir, dass eine Neuordnung und Neufassung der Zweckbestimmungen des emanzipatorischen Ringens möglichst bald zu Korrelaten der Entfaltung der drei erwähnten Arten von ökologischen Praxisformen werden.“ (42)
Wie eben gezeigt, bildet Guattari seine drei „Antidote“ auf die drei „semiotischen Regime“ ab, denen er die Schuld an toxischer Subjektivierung zuweist. Zu eindeutig ist diese Entsprechung, als dass man darin keine Systematik sehen könnte.
Obwohl Guattari systematischer Methode also eine Absage erteilt, benutzt er just das erkenntnistheoretische Werkzeug, das sich wie kaum ein anderes durch Systematik auszeichnet, nämlich Semiotik. Wie wäre dieser Widerspruch zu erklären?
Die Wahl der semiotischen Perspektive ist mit Sicherheit kein Zufall gewesen. Guattari benötigte ein philosophie-methodisches Tool, mit dem er sein Kernthema zeitgemäß fassen konnte – Subjektivierung und ihre Bedingungen. Und er war offenbar der Ansicht, dass Semiotik bis dato den größten Freiraum eröffnet hatte, um Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis zu beschreiben, ohne dabei verkappt Vorannahmen über das Subjekt wirksam werden zu lassen.
Zu Recht. Schließlich bezieht sich Semiotik (zumindest der Peirce-Tradition) auf alle erdenklichen Kategorien von Subjektivität – auf individuelle und kollektive, auf menschliche und nicht-menschliche Subjekte, sowie auf verbale und non-verbale Zeichen.
„Eher als vom Subjekt sollte vielleicht von Subjektivierungs-Komponenten die Rede sein, von denen jede mehr oder weniger auf eigene Rechnung arbeitet. Dies würde notwendigerweise dazu führen, die Beziehung zwischen dem Individuum und der Subjektivität erneut zu untersuchen und zuallererst diese Begriffe klar voneinander abzugrenzen.“ (23)
Trotz solcher Indizien lässt sich den Drei Ökologien jedoch kaum entnehmen, inwieweit es wirklich diese oder andere Eigenschaften der Semiotik waren, die Guattari sich auf sie berufen ließ.
Diese methodische Unschärfe des Textes ist keine Nebensächlichkeit. Sie tangiert seinen ethischen Gehalt.
Indem Guattari seine Dreigliederung aus der Luft greift, macht er sie zu einem beliebigen Vorschlag, wie Welt durch Begriffe unterschieden werden könnte.2
Diese Beliebigkeit aber ist weder mit der von ihm halb-explizit gebrauchten semiotischen Systematik vereinbar, noch mit seinen sehr explizit formulierten ethisch-politisch normativen Ansprüchen an den Diskurs. Weshalb?
Die semiotische Triade ist zwar zunächst – im Sinne Max Webers – „werturteilsfrei“. Und das heißt, sie schlägt nicht willkürlich vor, wie Welt durch Begriffe unterschieden werden könnte. Vielmehr ist sie Ergebnis einer systematischen Reflexion, wie Welt durch Begriffe unterschieden wird.
Die Triade versucht, so allgemein wie möglich zu beschreiben, wie Welt begrifflich strukturiert, behandelt, geteilt wird. Insofern ist es auch eher Semiotik-fremd, von „semiotischen Regimen“ zu sprechen. Der Begriff des „Regimes“ weckt Vorstellungen lenkmächtiger Patrizier und unterworfener Plebejer, dualistische Bilder von Autonomie und Heteronomie und Vorstellungen eines zentral geplanten Geschehens. Sofern man Semiotik aber überhaupt als eine Erklärungswissenschaft betrachten möchte, gleicht sie eher einer Evolutionslehre, die das Prozessieren von Zeichen auf möglichst wenige Faktoren zurückzuführen versucht, um die kausal notwendigen und hinreichenden Komponenten des Prozesses zu verstehen. Der Ausdruck „semiotisches Regime“ klingt dagegen eher nach sozialdarwinistischer Ontologie.
Normativ im strengen Sinne ist das theoretische Modell der semiotischen Triade also „nur“ methodisch – so wie jede handwerklich gewissenhafte Arbeit implizit einen gewissen Standard vertritt.
Gerade vermöge ihrer methodisch nicht beliebigen Normativität aber befähigt Semiotik auch politisch-ethisch zu nicht beliebiger Normativität. Indem sie nämlich versucht, die wertunabhängigen, abstrakten Faktoren aufzuzeigen, die sämtliche Prozesse physischer, psychischer, sozialer Zeichenaustausche bedingen, bietet sie überhaupt erst eine nicht-egozentrische, nicht-prä-subjektivierte Grundlage, auf der konkrete Zeichen-Ereignisse bewertet werden können. Sie macht also politische Entscheidungen überhaupt erst ethisch begründbar, indem diese sich auf eine methodisch kohärente Gesamtübersicht von Subjektivierungsmöglichkeiten stützen können. Wie will man bessere von schlechteren Subjektivierungen unterscheiden, wenn man sich keinen begründeten Vergleichsmaßstab erarbeitet hat?
Ein solches Modell formuliert weder exklusive noch letzte Wahrheit – es ist einfach ein Werkzeug zum Verstehen und Verständlichmachen. Doch bemisst sich die Qualität von Werkzeugen vernünftigerweise nicht nur an dem Nutzen, den sie bringen, sondern auch daran, welche Schäden sie nicht anrichten. Zwei Schäden, die die semiotische Triade vermeidet, sind: Unübersichtlichkeit unnötig zu vermehren, und bei falschen Reduktionismen, insbesondere Dualismen stehen zu bleiben.
Dadurch also, dass Guattari seinen drei Ökologien keine methodische Herleitung gibt, nimmt er seinem Text ethische Begründbarkeit. Mit seinen eigenen Ansprüchen an mentale Ökologie ist das kaum vereinbar.
Methodenkritisch muss man dem Text aber nicht nur den Vorhalt inkonsequenter Halb-Systematik machen. Auch historisch fehlt ihm eine Selbsteinordnung, die sich eigentlich vielfältig hätte aufdrängen müssen.
Andere Triaden (viele)
Denn das logische Tripel der Drei Ökologien wäre auch an andere Theorie-Modelle anschlussfähig gewesen als an die der Semiotik – und zwar nicht stattdessen, sondern zusätzlich, um sich auf ein breiteres Fundament zu stellen.
Da es Guattari beim Unterscheiden seiner drei Ökologien um Subjektivierung ging, hätten ihm Parallelen zu einigen besonders einflussreichen Erkenntnistheorien auffallen können – etwa zur „Drei-Welten-Lehre“ Freges (ab 1918) oder zu deren Fortentwicklung im „Welt 3“-Modell Poppers (ab 1972). Und auch gesellschaftstheoretisch gab es unverkennbare Parallelen – z.B. zu den drei grundlegenden Kapitalsorten Bourdieus (ab 1979) oder zu Luhmanns Unterscheidung von organismischen, psychischen und sozialen Systemen (ab 1984).
Alle diese Unterscheidungen sind strukturgleich in ihrer Gliederung (ökofaktisch, artefaktisch, soziofaktisch) sowie im kausalitätshierarchischen Aufbau dieser Gliederung. Insbesondere der soziologische „Umwelt“-Begriff, den Parsons und Luhmann dem des „Systems“ gegenüberstellen, ähnelt Guattaris „Ökologien“, da beide nicht im alltäglichen Sinne auf Naturumgebungen verweisen, sondern auf alle Arten von Umgebungsbedingungen subjektiver bzw. systemischer Abgrenzung. Auch dieser nicht-gegenständliche, sondern handlungsbezogene Begriff des Subjekts allerdings ist schon in Peirces Zeichen-Relatum des „Interpretanten“ beschrieben worden.
Überhaupt hätte Guattari als Philosoph und Semiotik-Benutzer um die lange und umfangreiche Geschichte triadisch konzipierter Erkenntnis- und Sozialtheorie wissen und darauf eingehen müssen.
Denn das logische Gefüge der drei Zeichenaspekte ist eine Denkfigur, die seit Jahrtausenden in vielen Traditionen und Terminologien verschiedener Lehren und Wissenschaften wiederkehrt.3
Um stellvertretend nur ein Beispiel zu nennen: Das christliche Bild des Lebens unterscheidet den Menschen in die Komponenten Leib, Geist, Seele – aberkennt Letzteres den Tieren und zuerkennt nur Ersteres den Pflanzen.
Das Rad der semiotischen Triade ist aber nicht nur in Diskursen der Religion, Philosophie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Linguistik oder Kybernetik erfunden worden – also nicht nur in Diskursfeldern der Kultur –, sondern auch in solchen von Wirtschaft und Recht.
Rechtlich finden semiotische Triaden seit Langem ausdrückliche Anwendung in der Grundstruktur von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Wahlen sollen geheim, frei, gleich durchgeführt werden. Staatsgewalten sind geteilt in Legislative, Exekutive, Judikative. Die Ideale der Republik sind Einigkeit, Freiheit, Recht. Grundrechtseinschränkungen müssen erforderlich, geeignet, angemessen sein. Als Rechtsquellen gelten Natur der Sache, Gewohnheit, Gesetze. Zum Völkerrechtssubjekt wird ein Staat durch die drei Merkmale Staatsgebiet, Staatsbevölkerung, Staatsmacht. Im französischen Strafrecht werden seit Napoleon Taten unterschieden in Verbrechen, Vergehen, Übertretung – die sogenannte „Trichotomie“, die zurückgeht auf die mittelalterliche Subjektivierung von Straftätern und Strafvollziehern vermittels der Abstufung Lebensstrafen (Hinrichtung), Leibesstrafen (Züchtigung, Verstümmelung), Schandstrafen (Geldbuße, Ersatzhaft).
Und im Bereich Wirtschaft begegnet man der semiotischen Triade in wissenschaftlichen Schlüsselfunktionen wie diesen:
Als Produktionsfaktoren gelten der klassischen Wirtschaftstheorie seit Langem Boden, Arbeit, Kapital. Die Funktionen des Geldes gliedert man seit Aristoteles in Wertaufbewahrung, Preismaßstab, gesetzliches Zahlungsmittel. Kredite werden unterschieden in Sachdarlehen, Arbeitsdarlehen, Gelddarlehen. Die anglophone Ökonomik beschreibt die Entwicklung des Geldes in den Etappen commodity money, representative money, fiat money (Metall, Banknoten, Buchgeld).
Jede dieser Triaden basiert – wissentlich oder nicht – auf derselben semiotik-logisch abgestuften Grundstruktur. Und jede von ihnen besitzt dauerhaft aktuelle Brisanz.
Das heißt: Aus jeder dieser Triaden ließe sich ganz im Sinne Guattaris eine eigene politisch-kritische Analyse je gegenwärtiger Lagen entwickeln – wie die obige zu Oikos, Logos, Nomos.
Welche Gestalten die semiotische Triade in aktuellen politischen Themenfeldern annimmt und wie sie dabei von interessierten Akteuren häufig verzerrt und verschleiert wird, sei an drei weiteren Beispielen kurz illustriert:
Erstes Beispiel: Identität. Die semiotische Triade kommt seit Langem vielfältig zum Ausdruck in Diskursen der sogenannten Identitätspolitik. Zu harschen Konflikten werden diese Diskurse oft dadurch aufgeheizt, dass sie bi-polarisierend geführt werden – das heißt: Der Zusammenhang dreier Aspekte wird auf zwei Pole reduziert und so in eindimensionale Exklusionskämpfe verwandelt: Wir gegen Die, Weiß gegen Schwarz, Mann gegen Frau, Hetero gegen Queer, Jung gegen Alt, Gläubig gegen Ungläubig, Rechts gegen Links, Stadt gegen Land, Reich gegen Arm, Gesund gegen Krank, West gegen Ost, Nord gegen Süd.
Zwei besonders umstrittene Kriterien von Identität sind Nationalität und Geschlecht.
Die Frage der „Nationalität“ einer Person löst sich semiotisch in diese drei Aspekte auf: Wo lebt sie (körperlich-materiell), was prägt sie (kulturell), welchen Pass besitzt sie (rechtlich). Bi-polarisiert wird die physische Frage des „Wo“ oft, indem man das „Blut“ oder die „Gene“ der Person zum räumlichen Sitz ihrer Zugehörigkeit erklärt und so ihre Kultur und Pass-Rechte ortsunabhängig überschreibt. Oder es werden Merkmale der Kulturalisierung bi-polar unterschieden in national-typische/-untypische, um erstere zur „Leitkultur“ zu erklären. Oder es werden der Pass, dessen Alter, das Ausstellerland des vorherigen Passes und andere Kriterien von Dokumentiertheit angeführt, um Personen nicht nur Rechte auf Wahlen, sondern vor allem Rechte auf Arbeit, Wohnen, Versicherung, sowie auf kulturelle und institutionelle Teilhaben vorzuenthalten, bzw. um ihnen besondere Pflichten aufzuerlegen.
Auch Fragen des „Geschlechts“ teilen sich semiotik-triadisch auf, nämlich in Aspekte des Biologisch-Medizinischen, des Kulturell-Psychologischen und der rechtlichen Handhabung der ersten zwei. Polarisiert wird der Diskurs um diese drei Komponenten geschlechtlicher Subjektivierung gegenwärtig z.B. in Debatten um Transsexualität: Wer sich etwa gegen Rechte auf Pubertätsblocker oder frühe chirurgische Eingriffe ausspricht, wird als transfeindlich angeklagt – dem wird biologistisches Geschlechterverständnis unterstellt. Wer sich – andersherum – für derartige Rechte einsetzt, dem werden oft das Negieren biologisch-medizinischer Risiken und das Leugnen psycho-kultureller Entwicklungsschwankungen vorgeworfen.
Zweites Beispiel: Geld. Fragen der Geldpolitik und der monetären Digitalisierung fachen gegenwärtig den alten geldtheoretischen Glaubenskampf zwischen „Metallisten“ und „Chartalisten“ neu an. Gestritten wird, verkürzt gefasst, darum, ob Geld seinen Wert der Knappheit seines Trägermediums verdankt oder der hoheitlichen Deklaration zum gesetzlichen Zahlungsmittel.
Dieser dualistische Diskurs um Bargeld versus Buchgeld produziert einen semiotischen Scheingegensatz. Er verdinglicht die materiell-indexikalischen und immateriell-symbolischen Aspekte des Wertzeichens zu getrennten Entitäten – und ignoriert ihre Einheit als bedeutungstragendes Gefüge – als „Kausalitätshierarchie“.
Der geldtheoretische Dualismus ist daher häufig weniger Ausdruck von Theorie als vielmehr Ausdruck des geldpolitischen Streits zwischen Austerität und Quantitativer Lockerung. Dieser geldpolitische Dissens reproduziert damit aber nur den semiotischen Scheingegensatz, indem er das gemeinsame Interesse der Streitenden verbirgt, nicht steuerpolitisch gegen zunehmende Ungleichheit vorzugehen.
Monetäre Digitalisierung ist kein nur technisch-materieller Prozess. Sie stiftet, wie jede größere Medienumstellung, semiotische Verunsicherung. Gegenwärtig begünstigt dies Tendenzen der Refeudalisierung.
Rein symbolische „Krypto-Werte“ erhalten zunehmend indexikalisch-ikonische Gestalten von deutungsunabhängiger Echtheit. „In-Game-Currencies“ als blinkende Münz- oder Schatzkisten-Icons; Blockchain-„Währungen“ als Fotos/Renderings realer Münzen; NFTs als Tafelmalerei-Unikate. Das im Aufbau befindliche Industrie-Projekt der Metaverses besteht darin, bloßen Regelsystemen das vertraute Aussehen realer Umwelten zu geben und so digitale Kolonien zu schaffen – mit eigenem Kataster, eigenen Formen von Arbeit („Interaktion“), eigener Kredit-Wirtschaft. Das Begehbarmachen des Geldes ist ein semiotischer Angriff der Finanzindustrie auf das öffentlich-rechtliche Münzmonopol.
Zentralbanken Unabhängigkeit zu gewähren, ist eine historische Errungenschaft. Sie entspricht der oben beschriebenen Einsicht, Ökologie und Ökonomie politisch getrennt zu adressieren – hier also: finanz-ökologische Geldpolitik und finanz-ökonomische Steuerpolitik zu unterscheiden – und sie nicht durch eindimensionale Scheingegensätze zu vermischen.
Auch Guattaris diskursiver Umgang mit Geld blieb der dualistischen Vereinseitigung des Materiellen verhaftet. Er schlägt die Aufzählung „monetäre, finanztechnische, buchhalterische und entscheidungstechnische Werkzeuge“ einseitig dem Semiotik-Regime Wirtschaft zu – nicht dem Regime des Rechts, das er nur vage mit „Eigentumstitel und Urkunden, Gesetzgebung und Verordnungen aller Art“ umschreibt. Er selbst also dürfte sich die Kredit-Verfasstheit des Geldes nicht ausreichend klar gemacht haben, dessen Wert eben nicht allein (indexikalisch) durch ein metallisches oder serverbasiertes Trägermaterial gewährleistet wird, sondern zudem (ikonisch) durch leichte Handhabbarkeit in preisvergleichender Wertabbildung und die (symbolische) Rechtsgültigkeit von Verträgen bzw. die Stabilität des rechtsstaatlichen Umfeldes. Auch Guattari unterlag, wie es scheint, einer semiotisch nicht systematisch reflektierten Vorstellung vom Verhältnis zwischen Ökologie und Ökonomie.4
Drittes Beispiel: Corona. Den Einzelnen – hier gemeint: seinen Körper – vor der Vereinnahmung durch ein Kollektiv, durch den Staat zu schützen, ist die Kernidee der Menschenrechte und der daraus abgeleiteten nach-aufklärerischen Staatsverfassungen. Körperliche Unversehrtheit ist somit das gesetzlich garantierte Minimum selbstbestimmter Subjektivierung. Dieser fundamentale Rechtsanspruch wurde von den Befürworter*innen der Impfpflicht aufgekündigt. Semiotisch betrachtet wollten sie den unmittelbaren Zugriff des ökonomischen Kollektivsubjekts auf die Ökologie der Individualsubjekte zulassen und deren psycho-physisches Selbstverständnis überspringen dürfen.
In Parlamenten und Medien rechtfertigte man diesen Grundrechtsentzug vor allem mit dem Begriff „Solidarität“. Doch diese Kategorie wertegemeinschaftlicher Subjektivierung wurde dabei dreifach pervertiert. Wirtschaftlich, weil man Solidarität durchsetzen wollte mit materiell-physischen Zwangsmaßnahmen – Arbeitsplatzverlust, Bußgelder, Haft –, durch „empfindliche Strafen“, wie der Bundesminister für Gesundheit öffentlich androhte. Der ökonomische Zwang hätte der Idee von Solidarität also kaum noch Reste subjektiver Verwirklichung gelassen. Kulturell, weil Medien und Politik die Impfskeptiker*innen mit einer sich über Monate verschärfenden Kampagne der Ausgrenzung überzogen. So war im Fernsehen vielfach die Rede von der „Tyrannei der Ungeimpften“, die die Gesellschaft „in Geiselhaft“ nähmen; ein bekannter Soziologe sprach sich im Interview dafür aus, dass Impfgegner*innen „fühlbar Nachteile haben müssen“ und man sich „im Grunde nicht länger mit denen beschäftigen“ könne – „die kann man nicht nach Madagaskar verfrachten“ – eine Anspielung auf ein Deportationsvorhaben des NS-Regimes („Madagaskar-Plan“). Und rechtlich, weil die Impfpflicht das rechtliche Entsolidarisieren der Versichertengemeinschaft bedeutet hätte – nämlich ein Unterscheiden von legalen und illegalen Krankheitsrisiken. Das hohe Rechtsgut, sich einen konkreten, irreversiblen Eingriff nicht zufügen lassen zu müssen, sollte auf eine Stufe gestellt werden mit dem Anliegen, die statistisch abstrakte Wahrscheinlichkeit einer Infektion gemindert zu bekommen – ein Anspruch, der nirgends verbrieft ist und dessen Ziel zum Zeitpunkt der Impfpflicht-Debatte überdies längst außer Reichweite war.
In der deutschen Diskussion um die Corona-Impfpflicht verletzte der größte Teil des politischen Spektrums – insbesondere des rot-grünen Spektrums – ethische Sorgfaltspflichten, indem er semiotische Unterschiede zwischen körperlich-materiellen, alltagskulturellen und rechtlichen Aspekten der Subjektivierung fahrlässig bis vorsätzlich einebnete.
Die aktuellen Beispiele zeigen: Die semiotische Triade markiert die gemeinsame Grundstruktur sehr unterschiedlicher Diskursfelder. Und sie zeigen auch, dass ein diskursives Verengen dieser Struktur auf einzelne ihrer Elemente Konflikte verschärfen. Denn dabei entsteht eine Subjektivität, die je eine der drei semiotischen Dimensionen zur allein entscheidenden erhebt, um „sich“ mit einem Pol dieser Dimension zu identifizieren. Semiotisch unreflektierte Subjekte bilden nicht den Diskursraum in sich ab, sondern ziehen sich darin auf einen Standpunkt zurück.
Dualismen und der Hang zur Verrechtlichung
Die Selbstverengung auf einen polaren Punkt ist logischer Ausdruck begrifflicher Umgebungslosigkeit. Die dualistische Subjektivierung Ich/Nicht-Ich stellt das Ich in ein unspezifisches Alles und damit in ein Nichts. Wenn dem Sprechen, Denken, Fühlen allgemeinere Begriffe fehlen, die als systematischer Zusammenhang überschaubar und vielfältig anwendbar wären, können biographisch-situative Besonderheiten – subjektiv „eigene“ Interessen – in keinerlei Bezugsrahmen eingeordnet, geschweige denn relativierend bewertet werden. Das Einnehmen und Vertreten ortloser Standpunkte ist Affekten ausgeliefert.
Eine besonders häufige Folge der Polarisierung ist, dass nicht unterschieden wird, inwieweit ein Interessenkonflikt kulturell oder rechtlich ausgetragen werden soll – bis wohin also es um Veränderungen von Alltagsgewohnheiten zu gehen habe, und ab wo um veränderte Vorschriften und Sanktionen.
Auch weil „Kulturkämpfen“ schnell der Vorwurf der „Moralkeule“ gemacht wird, haben semiotisch unreflektierte Diskurse die Tendenz, Kulturelles zu verrechtlichen. Schlagworte wie „Verbotskultur“ und „Cancel Culture“ sind aktuelle Symptome dieser Dynamik.
Sie zeigen, dass Verrechtlichung längst nicht mehr nur das große Rad parlamentarischer Gesetzgebung und Justiz drehen will, wie noch in den Politik-Debatten des Staatsmedien-Zeitalters.
Denn unter den Bedingungen der digital fortschreitenden Arbeitsteilung und einer zunehmenden Teilung auch der „Vierten Gewalt“ durch Social Media erscheint eine polarisierende Verfestigung von Subjektivierung zu „Identität“ in besonderem Maße zwangsläufig.
Seit Aufkommen vor allem des mobilen Internets greift eine To-Go-Verrechtlichung in allen möglichen Gruppierungen, Organisationen, Institutionen um sich. Falls möglich, wird dabei irgendeine „zuständige Instanz“ angerufen – eine Leitung, eine Intendanz, ein Rat. Doch vor allem und immer wird Klage geführt im Court of Public Opinion.
Bleibt man aber bei solchen medialen, mittel-verdinglichenden Erklärungen stehen, läuft man Gefahr, das sozio-epistemologische Problem unreflektierter Subjektivierung auf „die neueste Technik“ zu reduzieren – und so das Problem paradoxerweise historisch zu verschleppen.
Zum Beispiel durch den Weckruf „You are the product“. Unter diesem Slogan sollen seit einiger Zeit die Benutzer*innen Sozialer Medien und anderer digitaler Angebote vor deren nur scheinbarer Kostenlosigkeit gewarnt werden. Dieser Weckruf ist nicht falsch. Aber er ist auch nicht neu.
Er entstammt einem Video der Künstler*innen Richard Serra and Carlota Fay Schoolman aus dem Jahr 1973. Das Video trug den Titel Television Delivers People und bezog sich auf werbefinanziertes Fernsehen.
Schon vor 50 Jahren also machte der Hinweis „You are the product“ deutlich, dass kommerzielle Medien Menschen als Arbeitskräfte von „Einschaltquote/ratings“ kolonisieren. Und auch in noch früheren Diskursen der Medienkritik ließen sich gleichartige Feststellungen finden – etwa in den kritischen Texten zur „Kulturindustrie“.
„[…] das häusliche Leben wird durch den Konsum von Massenmedien zerrüttet, […]“ (11)
„Ein entscheidender programmatischer Punkt der sozialen Ökologie wird sein, diese kapitalistischen Gesellschaften der massenmedialen Ära in eine post-mediale Ära zu überführen; darunter verstehe ich, dass sich der Medien wieder eine Vielzahl von Gruppensubjekten bemächtigt, die in der Lage sind, sie auf einen Weg der Resingularisierung zu führen.“ (61)
Kritik an „Neuen Medien“ folgt daher oft dem oben beschriebenen allgemeineren Muster, gesellschaftliche Probleme als Probleme von Lebewesen darzustellen, die von Industrie und Politik in die dualistische Zange genommen werden.
Solche Diskurse beschreiben die digital kolonisierten Konsument*innen wie eine „Rasse“ naiver und fauler „Naturkinder“, denen Kritikfähigkeit und Verantwortung nicht zuzutrauen sind – Digital Natives, die Smart Homes voller Triggerwarnungen brauchen.
Medienkritik mündet zunehmend in Affekten, schärfere Regulierungen von Öffentlichkeit zu fordern, bis hin zur Zensur. Verrechtlichung.
Das wiederum liefert libertären Milieus einen Vorwand, reale Missstände wie sexistisches, rassistisches Online-Mobbing zu leugnen und als „Victimhood culture“ zu diffamieren. Kulturkampf.
Auch das medien-technische Fokussieren auf einen Punkt – den Zeitpunkt des Jetzigen – führt also in einen Dualismus: In die verzeitlichende Polarisierung „Damals/Heute“. Milderenfalls ensteht dabei eine Subjektivierung generationeller Selbstverklärung; schlimmerenfalls der Call for Action zu einem identitären „Great Again“.
Verallgemeinert kann man sagen: Dualismen erzeugen im Wesentlichen zwei Arten von Selbstabgrenzung – räumliche und zeitliche.
Diese beiden Behelfssysteme der Subjektivierung drängen sich dem Denken auf, da zu jedem beliebigen Eigen-Merkmal X sich ein Nicht-X wie von selbst bezeichnet. Raum-dualistisch kann sich das Subjekt in irgendeinem X von Körpertyp, Gruppierung, Territorium oder sonst einem „Drinnen“ zurückziehen. Und zeit-dualistisch kann das Subjekt sich mit irgendeinem Zeitpunkt X identifizieren – mit einer besseren Vergangenheit ebenso wie mit einer besseren Zukunft – je nachdem, ob es seine Gegenwart als dekadenten Zerfall oder als innovativen Aufbruch begreift.
Raum und Zeit sind dabei nicht Gegensätze, sondern Aspekte der gleichen Unterscheidung. Raum-Dualismen wie z.B. Nord/Süd oder Stadt/Land werden diskursiv häufig mit unterschiedlich weit entwickelten Zeitaltern gleichgesetzt – was bedeutet, die Vielfalt sozialer Entwicklungsmöglichkeiten entlang einer „universell gültigen“ Zeitachse dualistisch zu skalieren.
Dualistische Subjektivierungen haben die starke Tendenz, sinnlich evidente Dichotomien wie Subjekt/Objekt, Ich/Nicht-Ich, Innen/Außen, Jetzt/Einst fest mit Bewertungen zu verkoppeln – sie also abzubilden auf ethische Dichotomien wie mein/dein, anziehend/abstoßend, vertraut/fremd, harmlos/gefährlich, gut/böse. Im dualistischen Diskurs wird wahrnehmbare Vielfalt erst begrifflich verzweiseitigt und dann wertend vereinseitigt. Ohne angekoppelte Wertung bliebe die Unterscheidung X/Nicht-X tautologisch, bedeutungslos. Die Epistemologie des dualistischen Diskurses tendiert zur Epistemonomie – zu normativer Erkenntnis und Dogmatik.
Dualistische Subjektivierung trägt „sich“ in die Leere eines abstrakten Raumes bzw. Zeitstrahls ein. Sie kann daher weder spezielle Begriffe des Gegenwärtigen zu allgemeineren Begriffen gemachter Erfahrung in Beziehung setzen, noch spezielle Bewertungen aus allgemeinen Werten ableiten.
Triadische Subjektivierung hingegen macht einen Schritt mehr. Sie macht zwei Schritte und bewegt sich daher auf drei Stufen – auf der Abstufung ökofaktischer > artefaktischer > soziofaktischer Aspekte. Behält Subjektivierung diese interne Abstufung ihrer Begriffe im Blick, macht sie sich eine Abstufung von Generell/Speziell immer schon bewusst.
Um das zu veranschaulichen, noch ein einfaches Beispiel: Ein Apfelbaum inmitten und mitsamt der übrigen Welt ist ein Ökofakt. Greift nun ein Subjekt einen Apfel heraus – pflückt ihn und verbringt und zerteilt ihn vielleicht –, ist diese Apfelbehandlung ein Artefakt, während das spätere Essen und Verdauen der wiederum nur ökofaktische Aspekt innerhalb des Apfelartefakts ist. Wird der gepflückte Apfel stattdessen an andere Lebewesen verfüttert oder ihnen zum Kauf angeboten, ist die Apfelweitergabe ein Soziofakt, wobei das bloße Überreichen noch zum Artefakt der Apfelbehandlung gehört, das Übereignen hingegen – ob als Gabe oder gegen Geld – der soziofaktische Akt ist. Die Komplexitätsabstufung ist hier also: Ein Ökofakt wird im ökologischen Herausgreifen artifizialisiert und im Weitergeben ökonomisch (eigentumsrechtlich) soziofiziert. Der Apfel behält auf allen drei Stufen – allgemein – Aspekte eines Ökofakts, wird aber in bestimmten – zunehmend spezielleren – Handlungen artefaktisch benutzt und soziofaktisch geteilt, getauscht, bepreist, bewertet.
Im Denken und emotionalen Bewerten finden diese komplexitären Einordnungen sozusagen „rein innerlich“ statt – im kommunikativen Diskurs hingegen auch in Äußerungen – durch symbolische Darstellungen in Gesten, Tönen, Bildern, Begriffen.
Dualistisches Denken und Handeln bringt Subjekte in verschieden-artige Beziehungen zum Objekt Umwelt. Triadisches Denken dagegen bringt Subjekte in verschieden-gradige Komplexitätsbeziehung nicht nur zu Objekten, sondern auch sich selbst.
Deshalb wäre es eigentlich sinnvoll, nicht nur Objekte triadisch zu unterscheiden in Ökofakte, Artefakte, Soziofakte, sondern auch Subjekte in Ökosubjekte, Artesubjekte, Soziosubjekte, je nachdem, in welcher Weise sie sich gerade auf ein äußerliches Ding oder einen inneren Begriff beziehen. Diese parallele Triadisierung von Objekt und Subjekt hatte Guattari offenbar im Auge, als er den „semiotischen Regimen“ mit entsprechend gegliederten Ökologien der Subjektivierung begegnen wollte.
Die abgestufte Subjekt-Klassifikation wäre vor allem sinnvoll, um genauer zu beschreiben und zu bewerten, in welcher Weise Menschen-Subjekte andere Menschen und Tiere handelnd und diskursiv objektifizieren. Beschreibend, um die unterkomplexe Unterscheidung Subjekt/Objekt zu überwinden. Und bewertend, um „Subjekte“ nicht (nur) mit Personen zu identifizieren, sondern mit jeweils näher zu bestimmenden Aspekten ihres Seins und Handelns. Je klarer das semiotische Verständnis dieses diskursiven Prozesses, desto tragfähiger die Grundlage seiner Bewertung – nicht nur im Denken, sondern auch im Kompromisse-suchenden Kommunizieren.
Man kann vergleichend zusammenfassen:
Das dualistische Unterscheiden zieht zwischen dem Ich und der Welt eine absolute Grenze. Die Unterscheidung Ich/Nicht-Ich ist kontradiktorisch, und ergibt, weil sie kein positives Kriterium verwendet, ein Ich als Scheinbedeutung, die durch affektives Bewerten aufgefüllt wird.
Semiotisch reflektiertes Unterscheiden hingegen grenzt das Ich nicht kontradiktorisch ab, sondern gliedert die Welt (und damit auch sich selbst) abgestuft komplementär. Dazu braucht es logischerweise (mindestens) zwei Anwendungen desselben Kriteriums: Zwei Unterscheidungen derselben Welt nach Komplexität – in ökofaktische > artefaktische > soziofaktische Zeichenaspekte.
Das Abstufen nach Komplexität – in zwei Schritten, also drei Stufen – stellt Subjektivität als einen räumlich wie zeitlich kontinuierlichen Übergang her: Von äußerer, materieller Welt über den Zwischenbereich des Handelns zur inneren gedanklich-emotionalen Repräsentation, welche von dort handelnd auf materielle Welt zurückwirkt.
Dualistisches Denken verwechselt das Unterschiedene mit dem Unterscheidenden. Im Dualismus ist das Subjekt nur Teil der Welt und bleibt von dieser abgegrenzt. In der semiotischen Triade ist die Welt auch Teil des Subjekts – Teil des in ihm und durch es stattfindenden Zeichenprozesses.
Abkehr von Dualismen
Obwohl Guattari keine theoretischen Gründe seiner semiotisch triadischen Diskurs-Praxis angibt, grenzt er diese in den Drei Ökologien doch vielfach von den Nachteilen des Dualismus ab und fordert ausdrücklich eine Abkehr von dualistischen Konzepten.
„Die traditionellen dualistischen Oppositionen, die das soziale Denken und die geopolitischen Kartographien bestimmt haben, gehören der Vergangenheit an.“ (17)
„Die Öko-Logik gebietet nicht mehr, die Gegensätze „aufzuheben“, wie dies die hegelianischen und marxistischen Dialektiken verlangten.“ (46)
In dieser expliziten, epistemologischen Hypothese ist er sich wiederum nicht nur mit der Semiotik Peirces einig, sondern auch mit dem begriffslogischen Modell Freges oder der Wissenschaftstheorie Poppers.
Nun ist es zwar zum Lösen von Interessenkonflikten nicht ausreichend, die triadische Struktur von Subjektivität und Begriffen im Blick zu behalten. Aber es ist eine notwendige Voraussetzung, um polarisierende Freund-Feind-Dualismen kleinzuhalten, Dissense genauer herauszuarbeiten, Selbstwidersprüche (Deutungskonflikte = Komplexitätsgleichheiten) als normal und sinnvoll zu erkennen, Kompromisse kreativer zu entwerfen, und über Leben und Lebewesen vollständiger und so empathischer zu sprechen. Vor allem aber ist es nützlich, um sich neue Themen oder Themen neu zu erschließen, indem man Fragen zu ihnen systematisch stellt.
„Statt nach einem verdummenden und infantilisierenden Konsens zu suchen, wird es künftig ganz im Gegenteil darum gehen, den Dissens […] zu kultivieren.“ (43)
Wie ungünstig es ist, seine diskurs-kritische Perspektive nicht zu klären – sie weder theorie-systematisch noch semiotik-historisch zu grundieren – wird denn auch in Guattaris Text sichtbar.
„Der marxistische Diskurs seinerseits hat sich selbst entwertet, (nicht aber der Text von Marx selbst, dessen großer Wert unverändert bleibt).“ (34-35)
Statt auf oben erwähnte, bereits fortschrittsbewährte Werkzeuge vorhandener Diskurse zurückzugreifen, begibt Guattari sich dort, wo er neue Subjektivitäten als erstrebenswert skizziert, desöfteren in verfallene Resonanzräume von „Revolution“, in denen ein ebenso verstaubtes wie diffuses Pathos abzuwerfender Ketten mitschwingt. Schlagworte wie „Profitwirtschaft“ und „kapitalistischer Profit“ werfen darin ihre expressionistischen Schatten – in dualistischem Schwarz-Weiß.
Unbenannt aber bleiben durch derart staubwolkige Formeln just jene (schon seit Marx‘ Zeiten!) rechtlich wirksamen Subjekt-Formen, in denen sich höchst profitabel Privilegien realisieren:
Unternehmensstrukturen, die Steuerpflichten ausweichen; Eigentumsverschachtelungen, die persönliche Zuschreibungen verhindern; Haftungsbeschränkungen, die Risiken verschieben, kurz: All die Formen von Subjektivität, die anderen überlegen sind, weil sie als rechtliche Konstruktionen „kausalitätshierarchisch“ über den rechtsbegrifflich weniger bis gar nicht bestimmten Formen von Subjektivierung stehen.
Eine Kritische Semiotik des Subjekts würde wohl in kaum einem anderen Zeichenprozess so fündig wie in dem, der zwischen „natürlichen“ und „juristischen Personen“ abläuft.
Dass dualistische, polarisierende Denkgewohnheiten sich weder theorie-logisch noch politik-praktisch haben halten lassen, ist im Laufe des 20. Jahrhunderts immer deutlicher geworden.
Allerdings hat die Kritik an Dualismus und Binarität in der Tendenz dazu geführt, jede Idee von Abzählbarkeit, von Vollständigkeitsentwürfen gleich ganz aufzugeben und die Relevanz systematischer Reflexion zu verlernen. Unsystematische Gesellschaftskritik aber bedeutet fast unweigerlich, seinen Text zum Verstärker des Bestehenden zu machen – und dieses Bestehende funktioniert nun einmal hochorganisiert, hochsystematisch. Semiotisch begriffen ist das kein Wunder, sondern geradezu evident. Systematik als Methode zu vernachlässigen oder sogar abzulehnen, ist eine Form von Realitätsleugnung. Obwohl eben das der besagte Ausgangsbefund Guattaris war, hat ironischerweise ausgerechnet er einen entscheidenden Anteil am Aufstieg einer anti-systematischen Theorie-Ideologie.
Vielleicht müsste man also an das Problem falscher, reduktionistischer Dualismen noch einmal neu herangehen – nämlich mithilfe der semiotischen Triade. Denn wie eben dargestellt, ist es eben doch möglich, den Gegensatz Dualismus/Trialismus in Letzterem „aufzuheben“.
Der simple Umstand, dass zwei Schritte drei Etappen ergeben, macht anschaulich, wie eine subjektive Unterscheidung (zwischen den beiden Schritten des Subjekts) drei Objekte hervorbringt.
Man kann diesen Dual-Schritt sowohl räumlich als auch zeitlich begreifen – als einen Prozess vom materiellen Außen in ein ideelles Innen (und zurück), und als einen Prozess aus einer fernen Zukunft in eine erinnerte Vergangenheit (und zurück). Das mittlere Objekt ist das subjekt-körperliche Handeln, seine Handlungsgegenwart.
Viele der normalsprachlich dominierenden Dualismen werden sich für solch eine triadische Einbettung nicht eignen. Bei näherem Hinsehen aber ist es mit mehr Begriffspaaren möglich, als der erste Blick es vermuten ließe.5
Und tatsächlich war das bereits weit oben im Text zu erkennen. Dort wurden ja die Grenzen zwischen den drei Bereichen Oikos, Logos, Nomos von den Begriffen Ökologie und Ökonomie gebildet.
Dieses Begriffs-Duo fungierte als zwei Membranen, die, gerade indem sie die Trennung der drei Komponenten von Bedeutung herstellen, dadurch den diskursiven Austauschprozess zwischen ihnen bedingen.6
Und schon ganz zu Beginn fiel das Begriffspaar Korrelation/Kausation, als ich von der Korrelation Naturzerstörung und Kulturproduktion sprach und von der Frage ihres Kausalzusammenhanges.
Auch mit diesem Begriffspaar lässt sich der fließende Prozess von Erkenntnis als das dauernde Gehen zweier Schritte auf drei Stufen beschreiben.
Jeder Organismus, der über ein individuelles Gedächtnis verfügt, versucht, im korrelierten Auftreten von Phänomenen ursächliche Zusammenhänge zu erkennen, um diese zu benutzen oder zu vermeiden. Diese können sehr schwach bis sehr stark ausfallen. Deshalb kann man die Unterscheidung der beiden Schritte Korrelation/Kausation auch als den Unterschied Qualifikation/Quantifikation begreifen.
Da Bilder und verbale Sprache in ihren qualitativen Begriffen für Zusammenhänge an Grenzen stoßen, ziehen sie seit Langem – in Gestalt von Maßeinheiten, Diagrammen und Formeln – Zahlzeichen hinzu, um verschiedene Grade von Kausalitäten zu beziffern, berechenbar, kalkulierbar zu machen.
Es ist vor allem diese Tendenz des Zivilisationsprozesses, den Guattari gemeint haben dürfte, als er die semiotische Strukturposition der Kultur mit dem Attribut „technisch-wissenschaftlich“ versah. In dieser kritischen Sicht ist er dicht am Positivismusstreit und überhaupt an Adornos Feststellung, dass die Instrumente der Naturbeherrschung dazu verleiten, das Ding seinem Begriff gleichzumachen.
Im dualistisch dominierten Diskurs wird Erkenntnisvielfalt reduziert und durch Messungen darin noch präzisiert. Um vom Klarheitskick dieser Diskursdrogen unabhängiger zu werden, braucht es Begriffe der Reflexion, die so komplex sind wie nötig, aber so einfach wie möglich – Verallgemeinerungen, die bewegliche Selbstverortungen ermöglichen und keine polarisierenden Sackgassen sind.
Diskurskritik konkurriert mit der Verständlichkeit von Dualismen. Verzichtsappelle konkurrieren mit dem ergonomischen Design von Verschwendung und Zerstörung. Kritische Theorie konkurriert mit der Selbstverständlichkeit technischer und ideologischer Evidenz – mit der convenience von Apps, mit der Präzision von Prozenten – bei Batterieladungen und Inflationsraten, bei Erkrankungsrisiken und Meinungsumfragen.
Allein der Umstand, dass es das Kennzeichen autoritärer und totalitärer Systeme ist, dualistische Unterscheidungen zu kultivieren oder gesetzlich vorzuschreiben, sollte ausreichen, es einfach mal konsequent mit einer um 1 höheren Diskurskomplexität zu versuchen.
Auch 33 Jahre nach dem Erscheinen der Drei Ökologien spricht vieles für Guattaris Annahme, dass es des Werkzeugs der semiotischen Triade bedarf, um diskursiv einer reflektierten, emanzipierten Subjektivität näher zu kommen. Vieles spricht für eine Trialektik der Aufklärung.
Für Anregungen und Verbesserungen danke ich Tom Holert und Nicola Reidenbach. (FR)
Am 29. August jährt sich der Todestag von Félix Guattari zum dreißigsten Mal. Aus diesem Anlass, aber auch aufgrund von Notwendigkeiten, die über dieses Datum hinausweisen und die heutige Gegenwart wie deren Kommunikation betreffen, liest der Comicautor und Bildtheoretiker Felix Reidenbach Guattaris erstaunlich prognostischen Text Die drei Ökologien neu. Reidenbach interessiert Guattaris Relevanz für eine Kritik aktueller epistemologischer und ideologischer Verhältnisse. Dass es in seiner Relektüre auch um Defizite und Inkonsistenzen dieses Textes geht, kommt wiederum dem Projekt einer „kritischen Semiotik“ zugute. (TH)
Anmerkungen
1 Mein Peirce-Verständnis folgt weitgehend dem des Linguisten Rudi Keller. Dessen Umgang mit den drei Objekt-Relata des Peirce-Zeichen-Modells weicht von diesem in einem wichtigen Punkt ab: Die Strukturpositionen Erstheit und Zweitheit – bei Peirce Ikon und Index – werden von Keller in ausgetauschter Reihenfolge besetzt, was erheblich ist, weil es die Kausalitätshierarchie in Index > Ikon umdreht. Keller selbst erwähnt diese Abweichung nicht ausdrücklich. Sie begründet sich in seinen Büchern aber sozusagen demonstrativ – in einer Vielzahl von Index-Ikon-Beschreibungen sowohl theoriesystematischer als auch entwicklungspsychologischer und sprachhistorischer Art.1
2 Die Gliederung der „semiotischen Regime“ führt er tatsächlich ein mit der Wendung „Ich schlage vor […]“ (40).2
3 Siehe Felix Reidenbach, Das Trinokel – Geschichte einer Denkfigur (2018), www.dieniedlichen.de3
4 Die gleiche monetaristisch verengte Sicht auf Wirtschaft vertreten allerdings auch Bourdieu und Luhmann. Bourdieu definiert: „Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar […]“ – ohne ansonsten auf das Phänomen Geld kapitaltheoretisch näher einzugehen. Luhmann identifiziert das „System“ Wirtschaft vollständig mit Geld-Verkehr: „[…] alle Operationen, die wirtschaftlich relevant sind, und nur Operationen, die wirtschaftlich relevant sind, nehmen auf Geld Bezug.“ Das körperlich-materielle Spezifikum wirtschaftlicher Versorgung wird hier öko-nomistisch auf das gesetzliche Zahlungsmittel reduziert, ohne dieses dann aber konsequent als ein Phänomen des Rechts zu beschreiben. Zumal in Zeiten staatlichen Zentralbankengeldes hätte dieses Paradox als theorie-methodische Ungereimtheit auffallen können – wenn schon der Blick auf die alltäglichen Unmengen nicht-finanzieller, kooperativer Versorgung verstellt war – z.B. auf familiäre, nachbarschaftliche Care-Arbeit und viele Formen „ehrenamtlicher“ Fürsorge, die staatlich kaum gewürdigt werden und somit offenbar auch soziologisch leicht zu übersehen waren.4
5 Um nur einige Begriffspaare zu nennen, die versucht haben, den besagten erkenntnis- und diskurstheoretischen Doppelschritt zu bezeichnen:
Umwelt / System (Systemtheorie)
Habitus / Feld (Soziologie)
Steuerung / Regulierung (Kybernetik)
Objekt / Subjekt (Philosophie)
token / type (Semiotik)
parole /langue (Linguistik, Semiologie)
Sachverhalt / Tatbestand (Recht)
Geldware / Währung (Ökonomik)
Korrelation / Kausation (Logik)5
6 Dieser Austauschprozess zwischen den wirtschaftlichen, kulturellen, rechtlichen Dimensionen des Diskursraumes entspräche in Bourdieu-Begriffen dem „Konvertieren“ von Kapital-Sorten innerhalb des „Sozialraumes“.6
03.07.2022 — Rosa Mercedes / 07