Öffentlicher Protest im Covid-19-Zeitalter (Journal of Visual Culture & HaFI, 10)
Dies ist die zehnte Ausgabe einer Zusammenarbeit zwischen dem Journal of Visual Culture und dem Harun-Farocki-Institut, die durch die COVID-19-Krise ausgelöst wurde. Der Call, der an die Redaktion des JVC und die internationalen Autor*innen von JVC ging (eine Gruppe, die im Prozess wachsen wird), enthielt unter anderem folgenden Absatz : „Es gibt eine Menge spontaner, ad hoc-Meinungsbildung und verfrühter Kommentare, wie zu erwarten war. Die in dieser Situation zu verfolgende Ethik und Politik der künstlerischen und theoretischen Praxis sollte uns jedoch darauf verpflichten, vorsichtig zu bleiben und mit Vorsicht in die Diskussion einzugreifen. Wie eine der Redakteurinnen von JVC, Brooke Belisle, erklärt: ‚Wir suchen nicht nach Sensationsmeldungen, sondern vielmehr nach Momenten der Reflexion, die Verbindungen zwischen dem, was jetzt geschieht, und den größeren intellektuellen Kontexten, die unsere Leser*innen teilen, herstellen; kleine, handliche Methoden und Verfahren anbieten, um nachzudenken, und auf Werkzeuge, die wir haben, und auf Dinge, die wir kennen, zurückzugreifen, anstatt uns einfach nur betäubt und überfordert zu fühlen; helfen, als intellektuelle Gemeinschaft füreinander da zu sein, während wir isoliert sind; die Arbeit daran nachzudenken zu unterstützen und zu versuchen, einen Sinn zu finden/machen…, was immer auch ein kollektives Unterfangen ist, auch wenn wir gezwungen sind, getrennt zu sein.'“ TH
Öffentlicher Protest im Covid-19-Zeitalter
Von Kasia Bojarska
War der April der grausamste der Monate der Abriegelung?
Ich sehe meine trockenen Hände, so sauber wie nie zuvor. Und ich sehe Angst in einer Handvoll Desinfektionsmittel.
Zuerst wurden wir sozial immobilisiert, öffentlich abwesend gemacht, gewaltsam an unsere Haushalte gebunden. In Polen war das Verlassen der Wohnung nur dann legal, wenn man sich auf dem Weg zur Arbeit befand oder unterwegs zur Befriedigung der Bedürfnisse des täglichen Lebens.
Eine Krise wie diese trifft die Schwächsten, und sie scheint im Kern „eine Katastrophe für den Feminismus“ zu bedeuten. Fünf Wochen nach Beginn der Krise beschloss das polnische Parlament, eine Bürgerinitiative voranzutreiben, um das ohnehin schon restriktivste Abtreibungsgesetz in Europa noch weiter zu verschärfen. Ironischerweise, während das Coronavirus Frauen weniger schwer zu treffen scheint, wird die Alt-Right versuchen, ihren Anteil zurückzufordern.
links: Warsschau-Praga, Schlange vorm Pewex, Aleksander Jałosiński/Forum
rechts: Warschau, 3.10.2016, Schwarzer Montag, Chris Niedenthal (Archiwum Prostestów Publicznych)
Die erste These des kürzlich veröffentlichten Manifests, Feminismus für die 99%, besagt, dass der Streik, der im Oktober 2016 in Polen stattfand, neu erfunden wurde, „als mehr als 100.000 Frauen Spaziergänge und Märsche inszenierten, um gegen das Abtreibungsverbot des Landes zu protestieren“.[1]
Doch es war noch nicht einmal vier Jahre später, als die eingeschlossenen Frauen den Streik wieder neu erfinden mussten.
Was bedeutet es, in den Zeiten des Coronavirus zu protestieren, wie lässt sich die Kapitulation in Zeiten äußerster Verwirrung und Zerbrechlichkeit verhindern?
Inmitten der Krise des Gesundheitswesens mussten wir außergewöhnliche Selbstfür-Sorge und Solidarität bekunden, ohne dabei auf die Straße gehen zu können.
In diesem Ausnahmezustand wurden spontan und kollektiv Massnahmen ergriffen, und neben der Online-Kampagne gingen wir dann trotzdem nach draußen. Die Menschen begannen, sich – unter Einhaltung des vorgeschriebenen Abstands – vor Lebensmittelgeschäften anzustellen und darauf zu warten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Dies hatte eine kraftvolle und ironische Resonanz mit dem Schlangestehen in sozialistischen Zeiten: eine hoffnungslose und oft fruchtlose Alltagspraxis, die den Menschen – wie manche glauben machen wollen – weniger Solidarität lehrte, als sie in Verzweiflung und Demut einzuüben, vor allem in den 1980er Jahren, meinem ersten Lebensjahrzehnt.
links: Warchau, 15.04.2020, Agata Siwiak
right: East News, Karol Malcuzynski
Die Warteschlange, an die ich mich am besten erinnere, war jedoch eine außergewöhnliche an einem Frühlingstag im Jahre 1986, als wir in einer Masse von Menschen warteten, bis wir das lebensrettende Jod von Lugol bekamen, das angeblich ein Schutz gegen die aus Tschernobyl herüberwehende Radioaktivität sein sollte. Eine weitere unsichtbare Bedrohung, ein verborgener Mörder.
Ist der April der grausamste Monat, in dem sich Erinnerung und Militanz vermischen?
Warschau, 15.04.2020, Jasza Strongin