Therapeutischer Nihilismus
Als Donald Trump am frühen Morgen des 23. März in Großbuchstaben twitterte (um es bei den nachfolgenden Briefings der Coronovirus-Taskforce im Weißen Haus auch mündlich zu wiederholen), dass „wir nicht zulassen können, dass die Heilung schlimmer ist als das Problem selbst“, machte er einen weiteren Schritt in dem episch-pathetischen Kampf mit der wissenschaftlichen Gemeinschaft und insbesondere mit den beiden wichtigsten medizinischen Berater*innen der US-Regierung, Deborah Birx und Anthony Fauci. Sowohl Birx (die vormalige Direktorin der Abteilung Globale HIV/AIDS [DGHA] der Centers for Disease Control and Prevention [CDC] und US Global AIDS Coordinator unter Barack Obama, die Anfang März in die Coronavirus-Taskforce aufgenommen wurde) als auch Fauci (ein renommierter Immunologe, Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases [NIAID], und unter anderem ein wichtiger Protagonist der frühen HIV-Forschung, weil er „die Mechanismen der Induktion der HIV-Ausprägung durch endogene Zytokine“ entdeckte) sind inzwischen dafür bekannt, dass sie (und vor allem Fauci) den zahlreichen unhaltbaren Aussagen von Trump über die Pandemie standhaft widersprechen oder sie zumindest relativieren, oft unmittelbar nachdem der Präsident das Rednerpult verlassen hat, um den Mitgliedern der Taskforce das Wort zu überlassen.
Zwei Fotos in einem Washington Post–Artikel vom 24. März zeigen diese Konstellation. Sie könnten als Dokumente der Spannung innerhalb der Task Force gelesen werden. Man achte nur auf die Bestürzung in den Gesichtern von Birx und Fauci, während Trump (auf dem oberen Foto) seine Erklärungen abgibt, wohingegen (auf dem anderen Foto unten) er und sein Vizepräsident Pence grinsen, während Birx sich an die Medien wendet (obwohl Birx in diesem Moment vielleicht selbst eine lustige Bemerkung gemacht hat, das wäre zu überprüfen).
Darüber hinaus könnte man solche Fotos so verstehen, dass sie die Wiederbelebung des „therapeutischen Nihilismus“, eine kontroverse Doktrin, die im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert recht populär war, visuell illustrieren und orchestrieren. Noch keine Mainstream-Position, auch wenn sie von Leuten wie Trump, Johnson, Bolsonaro oder Orbán auf erschreckende (und verzerrende) Weise unterstützt wird, könnte der Rückgriff auf den „therapeutischen Nihilismus“ zu einer der gefährlichen Tendenzen im Diskurs um die Covid-19-Krise werden.
Ich stieß auf ihn zum ersten Mal in einem am 24. März erschienenen Artikel in The Nation, der von Trumps Reaktion auf die Pandemie handelt, seinem rücksichtslosen Ausspielen von Ökonomie gegen Gesundheit, finanziellen gegen medizinische/virologische Überlegungen; der Artikel erwähnt den Begriff beiläufig, obwohl dieser in der öffentlichen Debatte über die Krise noch kaum (oder gar keine) Verwendung findet. Aber was genau ist „therapeutischer Nihilismus“? Mitte bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts begannen Mediziner und Wissenschaftler Zweifel an den populären therapeutischen Reaktionen auf größere Epidemien und andere weit verbreitete Krankheiten zu artikulieren. Unter anderem wurde behauptet, dass jede/jeder Einzelne die Demokratisierung des Wissens nutzen sollte, um sich selbst medizinisch zu behandeln. Der Dichter und Kulturkritiker Matthew Arnold schrieb, dass „die Strömung der Tendenz des modernen medizinischen Denkens auf einen therapeutischen Nihilismus hinauslief“, ein Zitat, das 1888 von einem gewissen Maurice D. Clarke in einem Artikel mit dem Titel „Therapeutic Nihilism“ zustimmend verwendet wurde, in dem dieser Argumente gegen „energische“ und „heroische“ Medikamente versammelt. Gleich zu Beginn räumte der Autor mögliche Missverständnisse des Begriffs ein, „da er in offensichtlichem Gegensatz zum allgemeinen Instinkt der Menschheit steht, wovon nicht weniger der häusliche Wasserdost- und Safran zeugt als die freigiebigen Spitäler und solche einer größeren Wohltätigkeitsorganisation, um etwas für die Kranken zu tun“. Clarke stellt die medizinische Frage, „ob es notwendig ist, etwas zu unternehmen oder nicht, ob es klug ist oder nicht, ob es vielleicht nicht einmal schädlich ist“, da „wir alle verstehen, dass vom Arzt im gegenseitigen Einvernehmen erwartet wird, etwas zu tun“. Die Erwartung an den Arzt, ein aktiver Therapeut zu sein, sei eine „weit verbreitete Empfindung der Laien“, die unter Ärzten geteilt werde. „Der angebliche Nihilist in der Therapeutik stellt sich“, so Clarke abschließend, „gegen ein tief verwurzeltes Vorurteil, nicht allein in der Welt, von der nichts anderes erwartet werden muss, sondern in seiner [des Mediziners] eigenen Klasse, von der man annehmen könnte, dass sie über ein intelligentes Urteilsvermögen verfügt“.
Therapeutischer oder „medizinischer“ Nihilismus fand in der Folge Anhänger bei Theoretikern wie dem radikalen Pädagogen Ivan Illich, dem Autor des einflussreichen Deschooling Society. In seinem umstrittenen Buch Medical Nemesis von 1976 behauptete Illich (wie Paul Starr in einem Artikel mit dem Titel „The Politics of Therapeutic Nihilism“ aus dem gleichen Jahr zusammenfasste), „dass der große Anstieg der Lebenserwartung und der öffentlichen Gesundheit, den er in seiner Zeit erlebte, eher auf eine verbesserte Ernährung und Hygiene als auf Innovationen bei Medikamenten zurückzuführen war. Er glaubte auch, dass es einen Überschuss an Ärzten, Operationen und Verschreibungen gebe. Therapeutische Nihilisten behaupteten, ein solcher Überschuss führe oft zu Fehlverhalten und zur Zunahme iatrogener (ärztlich verursachter) Verletzungen, und warfen den Ärzten vor, noch mehr Krankheiten zu verursachen.“ Illich machte sogar die kontraintuitive und unvertretbare, wenn nicht sogar völlig zynische Aussage: „Weniger Zugang zum gegenwärtigen Gesundheitssystem würde, entgegen der politischen Rhetorik, den Armen zugute kommen.“ Jüngst hat der Wissenschaftsphilosoph Jacob Stegenga das Argument in seinem Buch Medical Nihilism von 2018 wieder aufgegriffen, in dem er argumentiert, dass „wenn wir die Allgegenwart kleiner Wirkungsgrößen in der Medizin, das Ausmaß irreführender Evidenz in der medizinischen Forschung, die dünne theoretische Basis vieler Interventionen und die Verformbarkeit empirischer Methoden in Betracht ziehen, und wenn wir unseren besten induktiven Rahmen einsetzen, […] unser Vertrauen in medizinische Interventionen verschwindend sein [sollte]“ (zitiert nach der Beschreibung der Oxford University Press).
Oliver Wendell Holmes
Interessanterweise war einer der meistzitierten frühen Befürworter des therapeutischen Nihilismus auch ein früher Theoretiker der Fotografie: Oliver Wendell Holmes (Senior) (1809-1894) erlangte den Ruhm eines Universalgelehrten als Arzt, Erfinder, Physiker, Dichter und Fotograf, der, nachdem er 1835 von seinen Studien in England nach Amerika zurückgekehrt war, „schnell zum führenden Sprecher der Nation für diese radikale neue Doktrin wurde und sie nicht nur auf die Medizin, sondern auch auf die vielen anderen Bereiche seiner wachsenden Interessen anwandte“ (Peter Gibian in dem hilfreichen Buch Oliver Wendell Holmes and the Culture of Conversation von 2001). In seinem Vortrag „Currents and Counter-Currents in Medical Science“ (1860), der von der Diskussion über die Fehler der „Homöopathen und Quacksalber zu einer Schlussfolgerung gelangte, die auf die gesamte materia medica angewendet wurde“ (Gibian), behauptete Holmes: „Vermutungen sind in der Medizin wie im Recht von großer Bedeutung. Ein Mann wird als unschuldig angesehen, bis seine Schuld bewiesen ist. Ein Medikament – d.h. ein giftiger Wirkstoff, eine Brandblase, eine Fistelabschnürung, ein Brechmittel oder ein Kathartikum – sollte immer als verletzend angesehen werden … Wenn diese Vermutung begründet wäre und die Krankheit immer als unschuldiges Opfer der Umstände angenommen würde und nicht durch Medikamente bestraft würde, … sollten wir nicht so häufig die Bemerkung hören, … dass durch Medikamente im Großen und Ganzen mehr Schaden als Nutzen angerichtet wird … Ich bin der festen Überzeugung, dass es für die Menschheit umso besser wäre, wenn die gesamte materia medica, wie sie jetzt verwendet wird, auf den Meeresgrund versenkt werden könnte, – und umso schlechter für die Fische.“
Holmes war kein „Nihilist“ im Nietzscheanischen oder einem anderen geläufigen Sinn des Wortes, noch vertrat er eine Position der wissenschaftlichen Verleugnung im Interesse des wirtschaftlichen Fortschritts, wie diejenigen, die versuchen, sich bei jemandem wie ihm die Legitimität für ihre Handlungen abzuholen. Bahnbrechende medizinische Aufsätze wie „Homöopathie und ihre verwandten Wahnvorstellungen“ (1842) und „Die Ansteckungsgefahr des Kindbettfiebers“ (1843) – „letzterer nahm die Keimtheorie der Krankheit um fünfzehn Jahre vorweg“ (Gibian) -, sein Beitrag zur Analyse des Ansteckungsproblems und seine Befürwortung der Antisepsis als Lösung, seine Einführung der Mikroskopie und Histologie und des Begriffs „Anästhesie“ in die amerikanische Medizin – all dies waren beträchtliche Leistungen auf dem Gebiet der Medizin und weit davon entfernt, therapeutisch „nihilistisch“ zu sein. “ Holmes‘ Nihilismus war eher ein Plädoyer für „eine genaue empirische Beobachtung einzelner Patienten, eine breite statistische Untersuchung von Patientengemeinschaften, anatomische Untersuchungen und Laborforschung (um damit den Weg für die bakteriologische Laborrevolution der nächsten Generation in der Medizin zu ebnen)“ (Gibian) – andererseit sallerdings bot er auch nur wenig positive Heilmethoden oder Behandlungen für Patienten an.
Auf einer anderen Seite war Holmes von den neuen Technologien des Sehens (Mikroskope, Teleskope, Fotografien) fasziniert, er erfand das Stereoskop und schrieb, wie bereits erwähnt, über die neuen optischen Geräte, über Fotografie und Daguerrotypie. Um einen kurzen Eindruck zu vermitteln, der seinem begeisterten (und für seine Erfindung Werbung machenden) Essay „The Stereoscope and the Stereograph“ (1859) entnommen ist:
„This triumph of human ingenuity is the most audacious, remote, improbable, incredible,—the one that would seem least likely to be regained, if all traces of it were lost, of all the discoveries man has made. It has become such an everyday matter with us, that we forget its miraculous nature, as we forget that of the sun itself, to which we owe the creations of our new art. Yet in all the prophecies of dreaming enthusiasts, in all the random guesses of the future conquests over matter, we do not remember any prediction of such an inconceivable wonder, as our neighbor round the corner, or the proprietor of the small house on wheels, standing on the village common, will furnish any of us for the most painfully slender remuneration. No Century of Inventions includes this among its possibilities. Nothing but the vision of a Laputan, who passed his days in extracting sunbeams out of cucumbers, could have reached such a height of delirium as to rave about the time when a man should paint his miniature by looking at a blank tablet, and a multitudinous wilderness of forest foliage or an endless Babel of roofs and spires stamp itself, in a moment, so faithfully and so minutely, that one may creep over the surface of the picture with his microscope and find every leaf perfect, or read the letters of distant signs, and see what was the play at the ‚Variétés‘ or the ‚Victoria,‘ on the evening of the day when it was taken, just as he would sweep the real view with a spy-glass to explore all that it contains.“
Ist eine sinnvolle Verbindung zwischen dieser Art von optisch-empirischem Enthusiasmus und der Doktrin des therapeutischen Nihilismus vorstellbar, insbesondere dort, wo letzterer im malthusianischen 19. Jahrhundert mit dem „administrativen Nihilismus“ (basierend auf einer Theorie des radikal abgeschwächten Statismus) in Verbindung gebracht wurde? (eher nicht, vermute ich, obwohl jemand wie Holmes vielleicht in der Lage gewesen wäre, die Verbindung zu ziehen). Jedenfalls arbeiteten diese beiden Nihilismen, wie der Wissenschaftshistoriker Emmanuel d’Hombres erklärt, aus der gemeinsamen Überzeugung heraus zusammen, „dass die Normen der Aktivität untrennbar mit der Struktur des (biologischen oder sozialen) Körpers verbunden sind. So wie es im individuellen Organismus eine vis medicatrix naturae gibt, die jede Intervention des Therapeuten vergeblich macht, so gäbe es im sozialen Körper eine vis medicatrix rei publicae (Malthus), die das Eingreifen des Gesetzgebers in das Wirtschaftsleben sinnlos und sogar gefährlich macht“. Nach Jahrzehnten des Versagens der medizinischen Therapie war im späten neunzehnten Jahrhundert aus dem diagnostischen Optimismus ein diagnostischer Pessimismus geworden – ergänzend zu der Forderung nach einem Rückzug aus der administrativen Regulierung im Bereich der politischen Regierung. Anstatt medizinisch in den einzelnen Patienten oder erkrankte Teilen der Bevölkerung zu intervenieren, wurden die kranken und gefährdeten Körper dazu aufgefordert, ihre jeweilige medicatrix naturae zu entdecken. Anstelle von therapeutischem Nihilismus könnte ließe sich auch, in Anlehnung an Lauren Berlant, von einem cruel optimism sprechen.
Unterhalb der aktuellen Debatten und Statements über die „Kosten“ von Ausgangssperren und sozialer Distanzierung, unterhalb von Trumpistischen Zurückweisungen medizinisch-wissenschaftlicher Maßnahmen (in seinem Versuch, die gesundheitliche Katastrophe der Pandemie vom „Problem“ der ökonomischen Repression und des Wachstums zu entkoppeln) lauert die bösartigste Vision/Version eines „therapeutischen Nihilismus“. TH
25.03.2020 — Rosa Mercedes / 02