Fernbeziehungen und Distanzkulturen
Illustration auf der Zoom-Website, https://zoom.us/docs/en-us/covid19.html
Zu den verwirrendsten Attributen, die sich in der Krise in den Vordergrund des Sprachgebrauchs und des diskursiven Framings geschoben haben, gehören „distanziert“ und „fern“ („from a distance“ oder „remote“). Besonders durch die normative Rede von der „sozialen Distanzierung“, von vielen viel zu lange in den vergangenen Tagen mit Unverständnis und Widerwillen quittiert, wurde die Vorstellung, dass Intimität auf körperliche Nähe angewiesen sei, in ihre tiefste Krise gestürzt. Statt dessen rücken die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der nichtkörperlichen Nähe und mit ihr von geschäftlichen und pädagogischen Fernbeziehungen ins Zentrum des Interesses. Das griechische Präfix τῆλε (tele) und seine unnachahmliche bild- und medientechnologische Karriere in optischen Geräten wie dem Teleskop und dem Teleobjektiv oder in Apparaten/Dispositiven wie der „Tele-Vision“ gewinnt eine neue ethische Dimension und scheint gleichzeitig ontologisch an Boden zu gewinnen.
Diese neue Bedeutung der Fernbeziehung ist natürlich keineswegs so neu als wie sie momentan dargestellt wird. Wenn Skype und Zoom zu den Tools des Lernens und Lehrens, von Planungstreffen und ungeplanter Geselligkeit im „remote“-Modus erklärt werden, dann wiederholt sich hier auch eine Hinwendung zum individualisierten und ortsungebundenen Studium, wie es das Fernsehen und die westlichen Bildungssysteme mit ihren didaktisch-pädagogischen Unterabteilungen wie dem Tele-Learning beziehungsweise Schulfernsehen oder bildungsinstitutionelle Produkte wie die Fernuniversitäten in den „Medienverbünden“ seit den späten 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre hinein geprobt haben – mit der britischen Open University und ihrer Verflechtung mit der BBC als dem vielleicht glorreichsten Beispiel.
Auf einer fundamentaleren Ebene ist aber genau genommen jedes Bild ein Distanzierungstool. In „Nah und Fern zum Bilde“, einem kleinen Aufsatz von 1986, dessen Titel 1997 auch für eine Anthologie mit einigen seiner verstreuten Aufsätze verwendet wurde, hat der im letzten Jahr verstorbene Kunsthistoriker Martin Warnke diesen etwas mysteriösen Satz eingebaut: „Der Nahblick kann unter dem Verdacht stehen, etwas prüfen, unter die Lupe nehmen zu wollen. Ein Bild von nahem zu sehen, bedeutet zumeist ihm etwas abgewinnen zu wollen, was es nie geben wollte.“ Steckt in dieser Formulierung, die durch eine Rubenszeichnung eines Pordenone-Freskos inspiriert war, auch eine Verhaltensempfehlung und Denkoption für diese Tage? TH
19.03.2020 — Rosa Mercedes / 02