In die Gegenwart eingesperrt

 

Von MARK TERKESSIDIS

Während der Krise ist nur Krise. Wir haben Krise, wir reagieren auf die Krise, unsere Gedanken werden beherrscht von Krise. Wir berechnen die Auswirkungen auf die Zukunft. Und jede Krise ist schlimmer als die Vorherige. Die Krise stellt die totale Gegenwart her, es gibt offenbar kein Davor und kein Danach. Dabei könnten wir Lehren ziehen aus der letzten Krise. Die war bekanntlich keine „Flüchtlingskrise“, sondern eine Regierungskrise: Es waren die (west)europäischen Regierungen, die nicht wahrhaben wollten, dass Syrien nah ist, dass dort Bürgerkrieg herrscht und dass die Lage der Geflüchteten in Jordanien, Libanon, der Türkei und Griechenland immer unerträglicher wurde. Mehrere Jahre ist das UNHCR durch Europa gefahren und hat betont, dass die Mittel für die vom UN-Flüchtlingskommissariat betreuten Menschen nur für 40 Prozent des Bedarfs reichen – und niemand hat reagiert und die Mittel aufgestockt.

Die Krise hat eine Geschichte.

Mit „Corona“ ist es ganz ähnlich. Seit Jahr und Tag haben unterschiedlichste Personen und Agenturen auf die Gefahren einer Pandemie hingewiesen. Aber so wie man offenbar denkt, man könnte die Globalisierung auf den Warenhandel beschränken und gleichzeitig die Wanderung von Menschen verhindern, so hat man offenbar auch geglaubt, dass Viren von Frontex aufgehalten werden können. Seit dem Ausbruch von HIV wird im Grunde so getan, als würden Viren nur „Randgruppen“ oder nicht-westliche Menschen betreffen: Ebola, MERS, SARS, Zika, Dengue, West-Nil – was hatten „wir“ damit zu tun? Zugleich ist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von den Nationalstaaten finanziell systematisch ausgetrocknet worden – heute erhält sie zwei Drittel ihrer Mittel aus der Privatwirtschaft und ist entsprechend von dieser abhängig.

Auch diese Krise hat also eine Geschichte.

Seit dem Realsozialismus scheint Planung ein schmutziges Wort geworden zu sein; es reicht, wenn wir die Milliarden zur Verfügung stellen, wenn die Krise da ist. Der Bürgermeister meiner Geburtsstadt hat mir kürzlich mal erzählt, dass er die Konsequenzen der „Flüchtlingskrise“ kaum noch politisch vermitteln kann: Vor 2015 seien die ganzen kleinen Initiativen, also die Engagierten zu ihm gekommen wegen kleiner Beträge – und er musste ihnen sagen, dass die Stadt nicht mal 500 Euro hat. Und in der Krise kamen dann plötzlich Millionen von Euro. Und als die Krise scheinbar beendet war, haben wir sie ad acta gelegt. Während der „Flüchtlingskrise“ haben sich eine Unmenge an neuen Formen des Engagements und der Zusammenarbeit ergeben, ebenso wie eine Unzahl neuer Erfahrungen – aber was haben wir daraus gelernt?

Nach der Krise tun wir so, als würde der Fetisch „Normalität“ wieder einkehren, und die Vor-Krisen-Fehler dürfen nochmal gemacht werden. Zur Zeit werden wieder neue Formen erprobt – zum Beispiel bei der Restrukturierung von Bildung und Arbeit. Wie aber werden all diese neuen Erfahrungen im Danach berücksichtigt? Wer wertet sie aus? Was könnte staatliches Handeln daraus lernen? Ohne die Lehren aus dem Davor und Danach ist die Krise eine Regierungsform, die uns in die Gegenwart einsperrt.

Es ist immer nur Krise.

27.03.2020 — Rosa Mercedes / 02