Die Pandemie als Sehorgan

 

Es ist eine Sache, über die Coronavirus-Krise als Anlass und als Gegenstand medialer, visueller, sozialer und diskursiver Produktion nachzudenken, zu sprechen, zu posten. Diese Art von analytisch-kritischem Zugriff ist gut eingeübt. Beruhend auf dem mehr oder weniger funktionierenden Zusammenspiel mental-kognitiver Reflexe sorgt dieser Zugriff dafür, dass in A plausibel der Ausdruck, die Repräsentation, die Metonymie, die Allegorie, das Bild usw. von B vermutet und entsprechend angeschaut wird. Aber vielleicht müssen alle Elemente der Lage noch einmal anders gesehen, die Phänomenologien der Krise daraufhin geprüft werden, ob sie nicht selbst in die Krise geraten sind.

Wenn der Migrationssoziologe und Aktivist Sandro Mezzadra in einem viel gelesenen und geteilten Blog-Eintrag (auf Italienisch bei Euronomade, in englischer Übersetzung auf der Homepage von Verso) schreibt, dass diese globale Pandemie und die Maßnahmen, die von der italienischen Regierung gegen sie ergriffen werden, in Wahrheit lediglich „exacerbating tendencies“ seien, „that have already existed for a while“, dann könnte daraus gefolgert werden, dass die Pandemie ihrerseits ein Organ oder ein Medium der Wahrnehmung ist. Schließlich bringt sie zu klarer und brutaler Sichtbarkeit, was bis vor kurzem noch vertuscht, ignoriert, übersehen werden konnte (und werden musste: denn anders hätten die ideologischen Betriebssysteme, auf denen das kapitalistische Welt-System mehr oder weniger widerstandslos lief, nicht weiter genutzt werden können).

Was also, wenn die Krise nicht das „Bild“ von etwas wäre, sondern ihrerseits Wahrnehmung ermöglicht? Was, wenn die unumkehrbare Situation, in der sich die „Weltgemeinschaft“ nun wiederfindet (und darin möglicherweise neu erfindet) eine schockartige Steigerung der Sichtbarkeit der globalen Krisen-Schichtung ermöglicht – und zwar nicht in erster Linie als Ergebnis von zahllosen Forschungen, Formen politischer Organisierung, künstlerischen Produktionen usw., sondern als eine Korrektur des kollektiven Sensoriums im gigantischen Maßstab?  TH

20.03.2020 — Rosa Mercedes / 02