Oktober 2023: FAX (3. September 2000) (#076)
Ab den 1990er Jahren nutzte Harun Farocki für den Austausch mit Freund*innen und Mitarbeiter*innen verstärkt das Medium Fax. Thermopapier ist ein kurzlebiger Träger, die Schrift ist an vielen Stellen inzwischen völlig unsichtbar, teils sind noch Passagen zu lesen. In Glücksfällen ist das Original beim Absender erhalten geblieben.
Hier – aus Anlass des letzten Freibadtags in Zürich – ein Fax, das Matthias Rajmann im September 2000 erhielt. Tippfehler sind in der Transkription stillschweigend korrigiert. Viele Recherchematerialien Matthias Rajmanns sind im Bestand des Farocki Forums der Universität Zürich.
Harun Farocki
Berlin, 3.9.2000
Lieber Matthias,
heute ist ein trauriger Tag, die meisten Schwimmbäder machen schon zu. Das liegt an der Empfindlichkeit der Besucher, in den letzten 30 Jahren gibt es immer weniger Leute, die einfach bei jedem Wetter ins Wasser springen.
Weil im Dokumentarfilm-Bereich immer so viel vom Menschen die Rede ist und immer Nähe zu den Figuren und sogar Liebe verlangt wird, hab ich mir zurechtgelegt: Denken wir an Flaubert. In Bovary gibt es wohl keine Person, die ihm sympathisch ist, dennoch ist das Buch keine Satire oder Polemik. Er nimmt soviel Interesse an der Lebenswelt dieser Provinzler, das genügt. Ein Roman oder Film ist doch kein Kindergarten, wo gewerbliche Liebe verströmt werden muß.
Drum fürchte bloß nicht, daß die Figuren zu Puppen werden. Diese Überlegungen, soll man ein Ziel sehen, soll es entrückt sein, das ist doch wie im Märchen – oder Dramaturgie.
Ich glaube übrigens, daß beim Schneiden das Anschauen das einzig Wichtige ist. Ich finde Computer zu schnell, aber man kann das ja durch Anschauen wieder verlangsamen.
Gestern waren wir im Staatsratsgebäude, heute Bundeskanzleramt, wo Böttcher/Strawalde von Schröder eingeladen war. Im Treppenhaus Glasfenster wie aus dem Kinderbuch, mit Liebknecht-Luxemburg, am Ende steht die strahlende Kleinfamilie, auf die die Weltgeschichte teleologisch immer schon zielte.
Schröder hielt eine ganz o.ke Rede, außer daß er den Ausdruck «ein Stück weit» benutzte. Jürgen aber sprach davon, daß er ihn weiterhin duzen muß und unter der Zensur gelitten habe, von Kohl nie eingeladen worden sei. Zur Strafe fiel der Projektor ein paar Mal aus, sodaß wir «Die Mauer» nicht zu Ende sahen. Wie bei einer Underground-Regierung.
Nach einem «Berliner» Buffet mit Buletten usw. ging’s heim und wir sahen uns das Länderspiel an, das wir aufgezeichnet hatten.
Herzlichen Gruß,
Dein Harun